Ein Freiluft-Theater zur Russischen Revolution

Am 23. September 2017 fand in Zürich ein Stadtspaziergang zur Russischen Revolution statt, organisiert von verschiedenen linksradikalen Gruppen und Einzelpersonen. Unter anderem führten dabei drei Aktivist*innen im Kreis 4 ein Theater auf. Wir veröffentlichen hier das Skript zum Nachlesen.

Ein sonniger Nachmittag im Herbst 2017. Drei geisterhafte Gestalten sitzen auf den Bänken des Anny-Klawa-Platzes in Zürich, trinken Sinalco und diskutieren.

ANNY KLAWA-MORF. He händer das gseh. Diä händ en Platz nach mir benännt!
FRITZ BRUPBACHER. Ja, voll. Nach mir au, grad da äne. Schiss-Reformischte! Ich bin nie eine vo dene gsi! Lug der das a! Zerscht vertribets alli Arbeiterinne und Arbeiter usem Quartier und denn schmückeds di neue Plätz mit de Näme vo eus alte Sozialischte. Pfui Tüüfel.
ANNY (deutet auf Leonie Kascher). Du häsch kein Platz übercho, Leonie. Bisch ne dänn doch chli z radikal gsi.
LEONIE KASCHER. Ja, ich weiss scho warum. Damals bin ich mit de Gruppe Forderig, wo ich mitgmacht han, de SP hert an Charre gfahre. Dass sie als sogenannt linggi Partei nüt gäg de Chrieg gmacht händ, isch für eus sletschte gsi. Es dunkt mi aso kei Überraschig, das d SP mir kein Platz gwidmet hät. (Wendet sich ans Publikum.) Sorry, mir händ ois ja no gar nöd vorgstellt. Ich bin d Leonie Kascher. Als Studentin bin ich vo Pole uf Züri cho und han da politisiert. Ich bin bide Ussersihler Ufständ1 debi gsi und han später d KPS mitgründet. Motiviert vo de Revolution bin ich i de 1920er Jahr id Sowjetunion greist und bis zu mim Tod dete blibe. Sither bin ich en Geist.
FRITZ. Ich bin au en Geist, de Geist vom Fritz Brupbacher. Won ich no gläbt han, bin ich en Arbeiterarzt gsi, da in Züri. Ich ha mit minere Frau zäme e Praxis für Sexualmedizin ufgmacht, det äne im Kollerhof. Für mich als Anarchist isch die Ziit vode Revolution die spannendsti Ziit vo mim Läbe gsi.
ANNY (ans Publikum). Ich bin de Geist vode Anny Klawa Morf. Ich han mit de sozialistische Jugendgruppe vor, während und auch nach de Revolution politisiert. Ich han au d Meitligruppe gründet, han Artikel gschribe und Rede gschwunge, mis ganze fascht hundert Jahr lange Läbe gege Patriarchat und Chrieg kämpft und di Rote Falke ide Schwiiz gründet.
LEONIE (ans Publikum). Mir freued eus, dass ihr hüt da ane cho sind. Für eus isch es schön z gse, dass sich Lüt für d Revolution intressiered, grad inere Zit wie hüt. Es isch offesichtlich kei dankbari Ziit zum Politik mache. (Wendet sich an Anny.) Das isch bi ois halt scho andersch gsi, gäll?
ANNY. I eusere Zit hät sich fasch niemer chöne absits halte. Mir isch damals gar nüt anders übrig blibe als Politik mache. Ich bin inere Arbeiterfamilie ufgwachse, ich han als Chind de Albisriederstreik2 erlebt, wo min Vater mitorganisiert hät. Er hät inere Maschinefabrik gschaffed zu beschissne Arbetsbedingige. Er isch denn nach dem Streik gschmisse worde und mir händ au müese us de Wohnig uszieh, will die de Fabrik ghört hät. Mir händ so oft müese zügle, wie de Vater d Arbet gwächslet hät. Es hät sogar Ziite gäh wo mer für es paar Täg uf de Strass gläbt händ. Ois häts immer a allem gfählt. Obwohl ich am Mami jede Abig han müese hälfe Hämpder nähiä. Bis tüüf id Nacht. Ide Schuel bin oft igschlafe wili so müed gsi bin. Di ganzi Misere hät scho au mit mim Vater ztue gha. Er hät sin ganze Lohn immer versoffe, isch hei cho und hät mich und mini Mueter abgschlage. Eimal hani en fascht umbracht. Ich bin scho mitem Bieli det gstande, wo er gschlafe hät. Aber oisi Familiegschicht isch kei ussergwöhnlichi. Zu dere Ziit isches villne so dreckig gange. D Vätere händ ihre Chummer versoffe und d Müettere händ no meh drunder glitte.
FRITZ. Ja, das isch krass. Ich bin da scho besser gstellt gsi. Du als Arbeiterin bisch ja nur scho us dinere materielle Position use politisch worde. Ich bin da en andere Wäg gange. Ich han de Sozialismus zerscht als en Idee känneglernt, als öppis Intellektuells. Ich chume ja usem Bürgertum und han alli Privilegie gha. Ich ha chöne studiere und, und, und. Ich ha nachem Medizinstudium inere Psychiatrie gschaffed und mich det mit all dene Problemli vode Bourgeousie umegschlage. Ich han aber bald gmerkt, das es mir i dem Umfeld nöd passt. Drum hani gkündt und in Ussersihl mini Praxis ufgmacht. Und zwar eini für Prolete. Es hät mich eifach zu de Arbeiterinne und Arbeiter zoge. Sie sind andersch gsi. Menschlicher, eifach nächer bim Lebe.
LEONIE. Ja, a dini Praxis magi mi guet erinnere. Die häts ja au no gäh, wo ich 1913 uf Züri cho bin. Ich bi ja vo Pole cho und han in Züri welle Philosphie und Psychologie studiere. Das münder oi mal vorstelle: 1913, als Frau, us Pole und Jüdin. Aber ich han ja früeh glernt kämpfe. Ich bin mit 15ni vo mim Arschloch-Vater abghaue. Studiere isch in Pole nöd möglich gsi, wills fascht kei Studieplätz gä hät für jüdischi Lüüt und für Fraue scho grad gar nöd. Woni denn uf Züri cho bin, hani natürlich überhaupt kei Stutz gha und bin drum id Fabrik go schaffe, zum mis Studium finanziere. So bin ich zu de Arbeiterinnebewegig cho.
ANNY. Ich bin mit 15ni, woni bide Sidewäberei in Höngg afange han schaffe, id Gwerkschaft iträte. Ich han mich drum bemüeht, dass alli andere Arbeiterinne au id Gwerkschaft chömed. Drum bini bide Cheffe nöd so beliebt gsi. Woni 1912 ide Leitig vom Generalstreik3 gsi bin, händs mi nachher gschmisse.
FRITZ. An Generalstreik chani mi guet erinnere. Es isch es Erfolgserläbnis gsi, dass d Arbeiterinne und Arbeiter zäme öpis chönd usehole. Aber vo dene guete Organisationsasätz sind mit em 1. Weltchrieg vil wider kaputt gange. Vill händ de Chrieg als en Erlösig empfunde und ghofft dass jetzt alles besser wird.
LEONIE. Stimmt, es hät vill Mane ge, wo in Chrieg zoge sind und sich vom Patriotismus hirisse lah händ.
FRITZ. Es hät eifach de Hass gäge s Vaterland gfählt. D Lüt sind zum Teil parat gsi, fürs Vaterland zstärbe, statt sich gäge s Vaterland z stelle.
LEONIE. Naja, aso ganz eso chan mers scho nöd gseh. Es hät ja doch au Lüüt gäh wo sich gäge de Chrieg gstellt händ. Und was mer scho au mues gseh isch, dass zu dere Zit in ganz Europa Kämpf am laufe gsi sind. Es isch i dere Zit zu härte Hungerufständ4 cho. De Bundesrat hät sich ja druf igstellt gha, dass de Chrieg allerhöchschtens 60 Täg duret, und drum sind bald ali Vorrät ufbrucht gsi. Es isch e richtigi Hungersnot gsi. D Ufständ da in Züri sind au drum cho, wils de Lüt so dräckig gange isch und alli de Chrieg bis da obe gha händ.
ANNY. Ja, aber de Chrieg hät au vili solidarischi Strukture kaputt gmacht. Mich häts extrem enttüscht, dass sich d Arbeiterschaft gägesiitig abegschosse hät. Mir händ dänn agfange d Fraue z mobilisiere. Mir händ di prekäri Lag vode Arbeiterinne und de Familiene thematisiert.
Und ich bin ide ganze Schwiiz umegreist und han Vorträg ghalte. Später häts ja au verschideni Kongräss ide Schwiiz gä, wo mer interessanti Lüüt troffe hät. D Clara Zetkin zum Bispil oder d Angelika Balabanoff. Die hani immer mega bewundered. E gschiidi Frau, wo vill Sprache gredt hät und a de Konferenze5 flüssend hät chöne übersetze.
FRITZ. Aber a dene Konferenze hät me ja scho amigs eifach Rede gschwunge und Resolutione useghaue, wo nachär kei Konsequenze gha händ. Für mich isch erst mit de Revolution in Russland öppis passiert, wo ali motiviert hät und uf de Plan grüeft hät.
LEONIE. Aber Fritz, öppis wo für d Lüt hüt, hundert Jahr nach de Russische Revolution, nöd uf de erst Blick ilüchtet: Du als Anarchist, warum häsch du dich überhaupt so fescht ufd Siite vo de Bolschewiki gschlage? Dass ich als Kommunistin das s Gröschte gfunde han, isch ja klar. Aber du hettisch det doch anderi Positione müese ha!
FRITZ. Ja weisch, d Bolschewiki sind i dem Momänt eifach die gsi wo öppis händ chöne risse. Isch doch klar, dass mir ali uf ihrere Siite gstande sind. Ich ha natürlich au Kritik gha. Für mich als Bakuninist hät d Revolution müese e Explosion vode Masse si und nöd eifach en Staatsstreich.
LEONIE. Ja aber es bruucht doch organisierti Lüüt wo d Revolution voratriibed!
FRITZ. Ja unbedingt, atriibe scho. Aber nöd über sie bestimme. Weisch ich han d Diktatur vom Proletariat scho ok gfunde. Aber da debi gats um d Bourgeoisie. D Arbeiterinne und Arbeiter müend de Bourgeoisie alli Macht und alles Eigetum wäg nä und di volli Macht übercho. I somene Sinn chan mer de Begriff Diktatur scho bruche. Aber e Diktatur vonere Partei über d Arbeiterschaft hani immer falsch gfunde!
ANNY. Mitem Lenin han ich oft über das diskutiert. Und au, wie mir ois ide Schwiiz sölled organisiere. Er hät d Meinig gha, dass mir da anders sötted zum Sozialismus cho als sie in Russland. Will mir e Demokratie händ, sölled mir ois i wichtigi Positione i de Ämter und Behörde ine schaffe und vo det us d Arbeiterinne und Arbeiter ufkläre und organisiere.
FRITZ. Aber ide Schwiiz händ doch eifach Revolutionäri gfählt wo so gschiid und muetig gsi sind wie die russische Vorbilder.
ANNY. Du bisch en elände Pessimischt, Fritz! Wo di ganz Ziit hinderem Pult gsässe isch und sini Pamphlet usetöggelet hät. Mir händ vill gueti Genossinne und Genosse gha wo genau so revolutionär gsi sind wie du.
LEONIE. Ja voll. Mer händs doch grad vorher ghört. Ussersihler-Ufständ! Mir all uf de Barrikade! Wenn das nöd revolutionär isch!
FRITZ (kleinlaut). Ja easy, das stimmt scho.
ANNY. Und was mer au nöd därf vergässe: Mir händ det sogar oisi Gfangene usem Knast befreit!6
LEONIE. Und usserdem isches in Züri mega abgange zu däre Ziit. Es sind ja vo überall her Lüüt da ane cho. Zum Bispil im Restaurant Eintracht7 hät mer sich Abig für Abig troffe und mit de Russe bis i alli Nacht ine diskutiert.
ANNY (ans Publikum). Das chönd ihr eu hüt vilicht nüm so guet vorstelle. Aber d Schwiiz hät damals halt nonig sone restriktivi Migrationspolitik gha, wie später. Vo überall her sind Lüüt da ane cho. Es hät e internationali Arbeiterschaft in Züri gäh. En Schmelztiegel vo Revolutionärinne und Revolutionäre us allne Länder.
FRITZ. Und mir sind all so moti gsi, wo d Oktoberrevolution los gange isch! Das isch en Momänt gsi wos e reali Möglichkeit gäh hät, das mir da ide Schwiiz di Riiche am Chrage packed und e Wält ufbaued nach eusem Sinn. Mir händ scho afange Plän schmiede, wie mir chönted Munitionsdepots und Bahnhöf bsetze und e roti Armee bilde!
ANNY. En Momänt, wo mir bsunders guet in Erinnerig isch, isch gsi, wo mer zäme an Hauptbahnhof gloffe sind und d Russe verabschiedet händ. All zäme simer ufem Perron gstande und händ di Internationali gsunge. (Beginnt in Erinnerung schwelgend und immer lauter werdend die Internationale zu singen. Fritz Brupbacher und Leonie Kascher stimmen ein und auch das Publikum lässt nicht lange auf sich warten.)

Anny Klawa Morf (1894-1993) spricht an einer Protestversammlung. Bild: Screenshot aus dem Film «Ich ha nie ufgä».

Fritz Brupbacher (1874-1945) mit seiner russischen Gefährtin Lidija Petrowna Kotschetkowa um 1900.

Leonie Kascher (1890-1952).

  1. Mitte November 1917 kam es in Zürich Aussersihl während mehreren Tagen zu heftigen Protesten gegen Krieg und Krise. Eine Munitionsfabrik wurde von Demonstrant*innen kurzzeitig dazu gezwungen, den Betrieb einzustellen. Der Staat reagierte mit Massenverhaftungen und einem Militäreinsatz. Am 17. November kam es zu Strassenkämpfen und dem Bau einer Barrikade. Das Militär antwortete mit dem Säbel und mit Maschinengewehren. Unzählige Verletzte und vier Tote waren die Folge.
  2. Im Jahr 1906 kam es in Zürich zu einer ungewöhnlich hohen Zahl von 50 Streiks. Ein besonders heftig geführter Kampf fand in der Automobilfabrik Arbenz in Albisrieden statt. Bauern lieferten sich Massenschlägereien mit Arbeitern. Berittenes Militär griff in der Folge die Bevölkerung des Arbeiter*innenquartiers mit Säbeln an.
  3. Zürich erlebte den ersten Generalstreik im Jahr 1912. Zuvor gab es insbesondere in der Westschweiz bereits lokale Generalstreiks. Auslöser in Zürich waren zwei Branchenstreiks, anlässlich derer teils bewaffnete deutsche Streikbrecher eingesetzt wurden. Nachdem ein solcher einen Streikposten erschossen hatte, doch durch die Klassenjustiz freigesprochen worden war, beschloss die Zürcher Arbeiterunion den allgemeinen Ausstand.
  4. Besonders Arbeiterinnen protestierten heftig gegen die ständig steigenden Lebensmittelpreise während dem Krieg. Auf Märkten kam es zu proletarischen Enteignungen, Wucherpreise wurden durch direkte Aktionen gedrückt, der Zürcher Kantonsrat von tausenden Frauen belagert.
  5. Gemeint sind u.a. die antimilitaristischen und internationalistischen Konferenzen von Zimmerwald (1915) und Kiental (1916), die sich gegen die in der Sozialdemokratie verbreiteten Tendenz hin zur Bejahung des Burgfriedens, der Kriegskredite und des Nationalismus wandten.
  6. Durch mächtige Demonstrationen vor der Polizeikaserne wurde zuweilen erreicht, dass Verhaftete frühzeitig entlassen wurden. So etwa im Novemberaufstand 1917. Während der sogenannten Junischlacht im Jahr 1919 attackierten Protestierende das Zürcher Bezirksgefängnis mit Steinen und begannen die Tore aufzubrechen, um den Genossen Konrad Wyss zu befreien. Die Polizei schoss scharf, verletzte 25 und tötete zwei Demonstrant*innen. Doch Wyss kam sofort frei.
  7. Gemeint ist wohl das Lokal des deutschen Arbeiterbildungsvereins Eintracht Zürich im Niederdorf. Heute befindet sich dort das Theater am Neumarkt.