«Die Ausbeutung der Arbeiter:innen und der Natur sind untrennbar verbunden» – Wieso Klimaaktivist:innen jetzt eine Reduktion der Arbeitszeit fordern

Für den 9. April 2022 ruft Strike for Future zu einem gesamtschweizerischen Aktionstag auf. In einer Welt, die zum Schauplatz vielgestaltiger Krisen geworden ist, wollen die Klimaaktivist:innen einen Systemwechsel. Am Aktionstag übt Strike for Future den Schulterschluss mit der Arbeiter:innenbewegung und fordert eine radikale Arbeitszeitverkürzung bei gleichbleibenden Löhnen. Der Zusammenschluss will damit an der kapitalistischen Produktionsweise ansetzen und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits weniger Arbeitsstress und Burnouts und mehr freie Zeit für die wichtigen Dinge im Leben. Andererseits würde, so zumindest die Überlegung der Klimaaktivist:innen, dadurch die Überproduktion von Waren abgebremst, was dem Klima zugutekäme. Wir haben mit Emilio, einem Aktivisten von Strike for Future, über die Klimakrise, radikale Politik und ihre Forderung nach Arbeitszeitverkürzung gesprochen.

Ajour: Im Manifest des Strike for Future habt ihr eine ganze Reihe von Forderungen aufgestellt. Ihr verbindet verschiedene Bereiche, unter anderem Arbeit, Ernährung, Gesundheit oder Migration. Dabei stellt ihr die kapitalistische Gesellschaftsordnung grundsätzlich in Frage und skizziert Umrisse einer klimagerechten Gesellschaft. Der diesjährige Strike for Future vom 9. April 2021 fokussiert auf die klassische gewerkschaftliche Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, also nach weniger Arbeit und mehr Lohn. Wie kam dieser Fokus zustande?

Emilio: Wir arbeiten auf einen Streik hin. Damit uns dies gelingt, müssen wir in einem ersten Schritt jedoch die Notwendigkeit des Streikens vermitteln und die Organisierung vorantreiben. Nach dem letzten Aktionstag, an welchem wir breite Forderungen aufstellten, kamen wir zum Schluss, dass wir unsere Inhalte nicht genügend konkret vermitteln konnten und uns dies somit nicht gelungen ist. Wir brauchen spezifische Forderungen! Und da bietet sich die Arbeitszeitverkürzung an, da diese aus feministischen, ökologischen und gewerkschaftlichen Blickwinkeln Sinn macht.

Was hat denn Arbeitszeitverkürzung mit Klimaschutz zu tun?

Es geht um die Frage der Produktion. Die Klimakrise ist das Produkt der kapitalistischen Produktionsweise. Denn diese muss stetig wachsen und die Produktivität steigern. Damit sind die Ausbeutung der Arbeiter:innen und der Natur untrennbar miteinander verbunden. Wenn es uns gelingt, durch die Arbeitszeitreduktion die Produktion zu verringern, werden auch die Emissionen gesenkt.

Würden Unternehmen nach einer Arbeitszeitreduktion nicht einfach mehr in Maschinen investieren oder das Arbeitstempo hochschrauben?

Die Arbeitszeitreduktion allein wird nicht ausreichen, um Emissionen zu senken. Wenn die Arbeitskraft teurer wird, ist davon auszugehen, dass die Produktion zum Ausgleich technologisch aufgerüstet wird. In der Vergangenheit haben neue Produktionstechnologien stets zu mehr Emissionen geführt. Eine Arbeitszeitreduktion macht also nur Sinn, wenn sie in die Überwindung unseres Wirtschaftssystems eingebettet wird. Es gibt zudem Studien, die sich mit dem Konsum befassen. Sie kommen zum Schluss, dass eine verringerte Arbeitszeit bei gleich bleibenden Löhnen nicht zu weniger Konsum führt. Dabei wird die Frage nach einem abgestuften Lohnausgleich wichtig. Denn: je mehr jemand verdient, desto höher sind die Emissionen dieser Person. So oder so ist es einfach auch wichtig, mehr Zeit zum Leben zu haben, um sich mit dem eigenen Wohlergehen und Glück zu befassen.

Mit dem Strike for Future wollt ihr Gewerkschaften und Arbeiter:innen für die Klimakrise sensibilisieren und mit den Forderungen der Klimabewegung zusammenbringen. Wie geht ihr da in der Praxis konkret vor?

Wir sind auf die Gewerkschaftsapparate zugegangen, das war mässig erfolgreich, wir kamen nur schleppend voran. Aber mittlerweile tauschen wir uns regelmässig mit verschiedenen Funktionär:innen aus und sind auch in Kontakt zu Vertrauensleuten der Gewerkschaften in den Betrieben. Wir diskutieren gemeinsam über sinnvolle und soziale Massnahmen gegen die Klimakrise und darüber, wie eine bessere Gesellschaft aussehen könnte. Zusätzlich dazu haben sich auch ausserhalb der Gewerkschaften Betriebskollektive gebildet, die sich am Arbeitsplatz für Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit einsetzen.

Wie ist die Reaktion auf eure Interventionen?

Allgemein ist ein grosses Bewusstsein dafür vorhanden, dass die Klimakrise ein grosses Problem ist. Dazu kommt: Wir alle sehen an unseren Arbeitsplätzen, was schiefläuft und wir wissen darum auch gut darüber Bescheid, was man anders machen könnte, um Emissionen zu verringern. Wir sehen darin einen grossen Hebel.

Ihr versucht die Anliegen der Klimabewegung gesellschaftlich breit abzustützen. Dennoch werden Aktionen für Klimaschutz nach wie vor von Klimaaktivist:innen getragen. Worin liegt das Potential eines Aktionstages wie des Strike for Future und wie geht es danach weiter?

Es geht in erster Linie darum, sich gemeinsam zu organisieren und diese Aktionstage gemeinsam zu bestreiten. Es kommen stetig mehr Leute dazu, die nicht in erster Linie Klimaaktivist:innen sind und damit verändert sich das Auftreten des Strike for Future zunehmend. Wir plädieren dafür, sich am Arbeitsplatz mit den Mitarbeiter:innen zu organisieren. Wir müssen dieses Wirtschaftssystem bremsen, das unsere Welt zerstört und dafür werden wir streiken müssen. Gleichzeitig müssen wir genügend Gegenmacht aufbauen, um eine klimagerechte Gesellschaft durchzusetzen.

In eurem Aufruf schreibt ihr über eine mögliche Arbeitszeitverkürzung: «Die sinnlose Überproduktion wird gestoppt, stattdessen orientiert sich die Wirtschaft an unseren echten Bedürfnissen und den planetaren Grenzen.» In einer kapitalistischen Gesellschaft orientiert sich die Wirtschaft jedoch immer am Profit. Wie können wir dafür sorgen, dass die Bedürfnisse der Menschen und der Natur ins Zentrum gestellt werden?

Wir müssen uns in allen Bereichen unseres Lebens überlegen, was sinnvoll ist. Was wollen wir produzieren? Wie produzieren wir? Wie arbeiten wir und warum? Für wen arbeiten wir? Diese Fragen müssen wir nicht individuell beantworten, sondern sie mit unserem Umfeld diskutieren. Der Strike for Future zielt auch darauf ab, solche Diskussionen zu fördern und darauf hinzuarbeiten, dass der Streik als Kampfmittel denkbar wird.

Im Zentrum der letztjährigen Strike for Future-Kampagne stand die Selbstorganisation. Ihr schreibt dazu: «Angesichts der Untätigkeit der Entscheidungsträger:innen schliessen wir uns zusammen und schaffen basisdemokratische Strukturen, die für den Übergang zu einer sozialen und ökologisch tragfähigen Gesellschaft nötig sind. Organisieren wir uns in der Schule und am Arbeitsplatz, im Alltag und in unserer Freizeit. Unser Streik wird uns in eine ebenso nachhaltige wie grossartige Zukunft führen.» Das klingt nach Überwindung des Kapitalismus, nach Rätedemokratie, nach einer kommunistischen Gesellschaft. Ist das jetzt die Radikalisierung der Klimabewegung, von der bürgerliche Medien immer sprechen?

Zu Beginn der Klimastreikbewegung, die ja von den Schulen ausging, richteten wir uns mit unseren Forderungen an den Staat. Daraus ist eine gewisse Perspektivlosigkeit entstanden, da mit Appellen an den Staat nichts erreicht werden konnte. Es gibt verschiedene Fraktionen innerhalb der Bewegung, auch diejenigen, die sich für die parlamentarische Politik entschieden haben. Die Einsicht, dass der Kapitalismus überwunden werden muss, bietet demgegenüber eine längerfristige und gesamtgesellschaftliche Perspektive. Darum sind wir bei Strike for Future auch so zahlreich und stark. Die bürgerlichen Medien verfolgen andere Interessen, denen gefällt das nicht. Sie betrachten die Klimakrise als etwas von den gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen Abgekoppeltes und suchen nach technologischen und oberflächlichen Lösungen. Viele, die sich ausgiebig mit der Klimakrise befassen – und das tun wir Klimaaktivist:innen – kommen zum Schluss, dass die kapitalistische Produktionsweise und der Klimaschutz nicht zusammengehen.

In der Klimabewegung werden ziviler Ungehorsam, direkte Aktionen und Blockaden immer relevanter. Diese Aktionen setzen ein hohes Mass an Organisierung und Engagement der beteiligten Aktivist:innen voraus. Ihr vom Strike for Future beschreitet jedoch einen anderen Weg. Ihr sucht die gesellschaftliche Breite und den Schulterschluss mit Gewerkschaften, Arbeiter:innen und der feministischen Bewegung. Innerhalb der Zürcher Klimastreikbewegung ist diese politische und strategische Stossrichtung am schlagkräftigsten. Wie kam es zu dieser Form der Radikalisierung?

Gerade vergangene Woche haben Klimaaktivist:innen versucht, beim Geissberg eine ZAD [zone à defendre, Anm. d. Redaktion] zu errichten. Diese Aktionen gibt es auch hier. Bei Aktionen des zivilen Ungehorsams und Blockaden muss man sich fragen, was man damit beabsichtigt und was erreicht werden kann. Was bringt uns das, wenn Aktivist:innen massenhaft verhaftet werden und danach Bussen bezahlen müssen? Solche Aktionen sind nur im Kontext des Aufbaus einer breiten gesellschaftlichen Bewegung und Gegenmacht sinnvoll. Wenn die Arbeiter:innen von Lafarge Holcim streiken und wir eine Kiesgrube blockieren, dann haben wir etwas erreicht und können schlagkräftig agieren.