Die Solidaritätslüge – Karin Keller-Sutters «humanitärer Akt» ist ein schlechter Witz

Nachdem die türkische Regierung die Grenzen zu Europa geöffnet hat, eskalierte die Situation an der griechisch-türkischen Grenze. Der rassistische Mob und Grenzbehörden attackieren Geflüchtete. Bereits gibt es Tote. Die Schweiz und ihre Migrationspolitik tragen Mitschuld an dieser Entwicklung, wie ein Blick auf die aktuelle Desinformationskampagne vor und auch während den Verlautbarungen rund um den Coranvirus von Bundesrätin Karin Keller-Sutter und dem Staatssekretariat für Migration zeigt.

Im Januar 2020 liess Bundesrätin Karin Keller-Sutter verlauten, dass die Schweiz auch in Zukunft unbegleitete Minderjährige auf der Flucht aufnehmen werde, sofern sie Verwandte oder sonstige persönliche Kontakte in die Schweiz haben. Das verwunderte, ist die St. Galler FDP-Bundesrätin doch bekannt für eine repressive Migrationspolitik. Knapp einen Monat später zog Mario Gattiker, Staatssekretär für Migration, nach: direkt aus Griechenland verkündete er in einem gross aufgemachten Exklusivinterview im Blick, dass die Schweiz ihren Verpflichtungen im Rahmen des sogenannten Relocation-Programms nachkomme und in Griechenland sogar ein Zentrum für «Buben» mitaufbaue. «Frau Bundesrätin Keller-Sutter möchte als humanitären Akt elternlose Minderjährige zu uns holen, wenn diese familiäre Beziehungen in der Schweiz haben», liess er sich zitieren. Wir haben beim Staatssekretariat für Migration (SEM) nach den genauen Zahlen der letzten Jahre gefragt. Die Antwort zeigt auf, dass die medienwirksamen Ankündigungen primär dem guten Gewissen dienen und wenig mit gegenseitiger Hilfe oder gar ernsthafter Entlastung Griechenlands zu tun haben. Von einem humanitären Akt kann keine Rede sein.

Schweiz nimmt in fünf Jahren einen einzigen unbegleiteten Minderjährigen auf.

Gemäss Reto Korman vom SEM hat Karin Keller-Sutter «am besagten EU-Ministertreffen lediglich das bereits an Griechenland ausgesprochene Angebot zur Aufnahme von Minderjährigen mit Familienbezug zur Schweiz erneuert». Es werden indes nur Fälle geprüft, die der Schweiz von den griechischen Behörden zu diesem Zweck vorgelegt werden. Was das in Zahlen bedeutet, bleibt unklar, wobei Kormann mit Verweis auf das Blick-Interview mit Mario Gattiker von ca. 50-100 Kindern und Jugendlichen ausgeht, die dafür in Frage kommen. Auch der Zeitrahmen über welchen diese Anzahl unbegleiteter Minderjähriger aufgenommen werden sollen, ist nicht definiert – aber ein Blick auf die vergangenen Jahre entlarvt die Dimension der Ankündigung vollends als symbolisch. In den letzten fünf Jahren nahm die Schweiz im Rahmen sogenannter Dublin-Relocations 579 Personen aus Griechenland auf. Kormann führt auf Nachfrage von ajour aus, wie viele unbegleitete Minderjährige sich unter diesen Personen befanden: «Im Rahmen des Relocation-Programms ist aus Griechenland lediglich ein UMA (unbegleiteter Minderjähriger, die Red.) in die Schweiz gereist. Von den 579 Asylsuchenden aus Griechenland waren zwar insgesamt 266 minderjährig, jedoch sind bis auf den einen UMA alle in Begleitung von Verwandten gereist.» Hinter der von Keller-Sutter und Mario Gattiker prahlerisch angekündigten Grosszügigkeit der Schweiz, den unter unerträglichen Bedingungen lebenden unbegleiteten Minderjährigen eine Tür zu öffnen und den unmenschlichen Zuständen in Griechenland entgegenzuwirken, steckt also diese Zahl: eine Person wurde im Rahmen dieses Programms in den vergangenen fünf Jahren aufgenommen. Eine Person. In fünf Jahren.

Helvetische «Asylexperten» an griechischer Grenze

Die neusten Berichte aus Lesbos schildern Schreckensszenarien und die besorgniserregende Entwicklung seit der Machtübernahme der rechtskonservativen Nea Demokratia im Sommer 2019 verschlimmern die Lebensumstände für geflüchtete Menschen in Griechenland kontinuierlich. Hunderte Kinder leben eingesperrt in gefängnisähnlichen Lagern, zehntausende Menschen in den Freiluftgefängnissen auf Inseln wie Lesbos und Chios oder unter prekären Bedingungen auf den Strassen der griechischen Städte. Die Schweiz entsendet «Asylexperten», gibt Aufnahmewilligkeit vor und baut ein «Zentrum für Buben».
Kommt hinzu: Seit die Türkei die Grenzen geöffnet hat, verbreiten Medien und Politik wieder Panik und stellen die Geflüchteten erneut als algemeine Bedrohung für Europa dar. Doch tatsächlich wurden die Zustände, die heute an der türkisch-griechischen Grenze und auf den griechischen Inseln herrschen, teils willentlich herbeigeführt. Es sind politische Entscheidungen, die diese Zustände schaffen. Es sind nicht die Migrant*innen, die Europa bedrohen, sondern es ist die Wirtschafts- und Migrationspolitik, die Menschen in ihrer Existenz bedroht, ausbeutet und fruchtbaren Boden für Rassismus bietet, so wie wir ihn heute in Lesbos, in der Evros-Region und anderswo sehen.

Die Schweiz ist nicht nur passive Zuschauerin in dieser Entwicklung. Denn durch Desinformationskampagnen, wie jener orchestriert durch Bundesrätin Keller-Sutter und Staatssekretär Mario Gattiker, gibt sie vor, solidarische Partnerin der Geflüchteten zu sein. Damit wird der öffentliche Diskurs gezielt beeinflusst, gleichzeitig aber weiterer Abschottung den Weg geebnet. So fordert Gattiker striktere Rückführungen, direkt von den griechischen Inseln zurück ins Herkunftsland: «Athen möchte die Verfahren derjenigen Migranten, die objektiv betrachtet keinerlei Aussicht auf Asyl haben, rascher erledigen. Wer keinen Schutz braucht, soll direkt von einer griechischen Insel weg ins Herkunftsland zurückgeführt werden.» Auch hierbei will die Schweiz helfen. Auf Nachfrage von ajour, ob angesichts der drohenden Ausbreitung des Coronavirus und der nicht vorhandenen medizinischen Versorgungn nicht alle auf den griechischen Inseln festgehaltenen Menschen sofort auf europäisches Festland transferiert werden müssten, antwortet Kormann ausweichend : «Generell befindet sich Griechenland in einer äusserst schwierigen Situation. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass es angesichts dessen prioritär ist, Griechenland bei der Bewältigung der aktuellen Herausforderungen zu unterstützen.» In anderen Worten: auch in Zeiten der Corona-Epidemie ist die Schweiz nicht bereit, zusätzliche Menschen aufzunehmen und unterstützt die griechischte Regierung lieber darin, Geflüchtete von Moria und anderen Camps in geschlossene Gefängnisse auf dem Festland zu transferieren – in Kriegsschiffen und auf dem Boden sitzend, wenns sein muss.

Lager Moria zu gefährlich für den Schweizer Staatssekretär

Bemerkenswert ist, dass das in einer Zeit passiert, in der sich Gattiker bei seinem Griechenland-Besuch kein Bild vom Hotspot Moria auf der Insel Lesbos machen konnte, weil aus Sicherheitsgründen «keine ausländische Delegation Asyleinrichtungen auf den griechischen Inseln besuchen» konnte. Da wo hunderte von Minderjährigen festgehalten werden, kann der Herr Staatssekretär mit seine Delegation nicht hinfahren. Aber die Menschen sollen da ruhig auf ihre Rückführung warten – im Falle von Lesbos sind das gegen 20’000 Menschen, zusammengepfercht auf engstem Raum unter prekärsten Bedingungen. Dabei leben alleine im sogenannten Sektor B über 500 unbegleitete Minderjährige. Konzipiert wurde er für 160 Personen. Im ganzen Land leben derzeit 5000 unbegleitete minderjährige Geflüchtete.
All das lässt die Ankündigung von Gattiker und Keller-Sutter als das erscheinen, was sie wirklich ist: die ganz normale und alltägliche Unmenschlichkeit der Schweizer Asylpolitik. Diese hat Kontinuität, wie Keller-Suter auch bei ihren Ausführung zu den Massnahmen rund im den Coronavirus eindrücklich bewies. Es geht dabei weder um Solidarität, noch um die Unterstützung für Menschen in Not, sondern einzig um die Erhaltung des Status Quo. Dafür geht der Schweizer Staat über Leichen und nimmt Freiluftgefängnisse in Kauf, wenn es der Abschottung, den angeblich «sicheren Grenzen» und dem Migrationsmanagement dient. Statt der hohlen Scheinbekenntnisse der Herrschenden braucht es jetzt umso mehr praktische Solidarität und entschlossenen Widerstand gegen das menschenfeindliche europäische Migrationsregime und seine Vertreter*innen. Gerade auch während alle Welt auf den Coronavirus blickt.

Titelbild: World Economic Forum 2018