Die Solidarität mit Rojava endet dort, wo der Nationalstaat beginnt

Wir veröffentlichen diesen Text zusammen mit einem von der Gastautor*in geführten Interview mit Sehrwan Bery, dem Co-Vorsitzenden des kurdischen Roten Halbmondes. Das Interview wurde bereits vor geraumer Zeit geführt aber wir finden es gerade in Zeiten von Corona wichtig, die Solidarität mit Rojava nicht zu vergessen. Während im Interview viele Forderungen an die Realpolitik gestellt werden, thematisiert der folgende Kommentar, warum wir von Politiker*innen und Regierungen keine Solidarität erwarten sollten.

Wenn es um die emanzipatorische Bewegung in Rojava (Nord- und Ostsyrien) geht, taucht das Wort Solidarität immer wieder auf. Doch ausserhalb der radikalen Linken gibt es kaum praktische Unterstützung für das föderale Modell, das auf direkter Demokratie und Gleichberechtigung basiert. Das überrascht grundsätzlich niemanden, steht doch der auf Inklusion und Ökologie fussende «Demokratische Konföderalismus»¹ im Gegensatz zum Konzept des kapitalistischen Nationalstaates. Umso überraschender ist es jedoch, dass westliche Politiker wie der französische Präsident Emmanuel Macron und der US-Präsident Donald Trump die Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF), die zu einem grossen Teil aus den kurdischen Milizen YPG und YPJ bestehen, als «ihre Freunde» bezeichnen. Immer wieder betonen die Präsidenten die Wichtigkeit dieser Kräfte im Kampf gegen Islamismus und Terror. Die Kurd*innen gelten bei westlichen Politiker*innen und Medien als «fortschrittlich» und «säkular», weshalb sie einen Platz an der Seite des «aufklärerischen Westens» verdient hätten. Wenn es darum geht den türkischen Expansionsgelüsten in Nord- und Ostsyrien ein Ende zu setzen, ist von diesen angeblich gemeinsamen Wertvorstellungen allerdings nichts mehr zu spüren.

Mehr Geld für Kriege

Auch die deutsche Regierung steckt ihren Kopf in den Sand. Im Oktober 2019, kurz nach dem Beginn der türkischen Invasion in Nord- und Ostsyrien, forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel zwar den türkischen Präsidenten Erdogan dazu auf, seine Militäroffensive zu stoppen. Die Bundesregierung verordnete gar, die Lieferungen von Rüstungsgütern in die Türkei einzuschränken. Doch dieser Lieferstopp betrifft nur diejenigen Güter, «die im Konflikt in Nordsyrien genutzt werden könnten». Ebenfalls davon ausgeschlossen sind bereits genehmigte Geschäfte. Kein Wunder, denn fast ein Drittel aller deutschen Kriegswaffenexporte geht in die Türkei. Allein in den ersten vier Monaten des Jahres 2019 erhielt Ankara von Deutschland Kriegswaffen im Wert von 184,1 Millionen Euro.

Politiker*innen wie Angela Merkel scheinen in der gleichzeitigen Aufrüstung und Abmahnung der Türkei aber keinen Widerspruch zu sehen. Basiert ihre Logik doch auf der Prämisse, dass Kompromisse zum täglichen Geschäft der Politik dazugehören und man «mit allen reden soll». Gemeint ist: Die wirtschaftlichen Beziehungen zu Autokraten wie dem russischen Präsidenten Vladimir Putin oder seinem türkischen Pendant Recep Tayyip Erdogan stechen humanitäre Bedenken aus – und das um Längen.

Bis anhin hat die türkische Aggression denn auch den Flüchtlingsdeal zwischen der europäischen Union und der Türkei nicht gefährdet. Im Abkommen von 2016 wurden der Türkei sechs Milliarden Euro, verteilt über mehrere Jahre, für die Versorgung syrischer Flüchtlinge zugesagt – sofern diese an der Flucht übers Mittelmeer gehindert würden. Die katastrophalen Folgen dieses Flüchtlingsdeals wurden Anfang März 2020 an der griechischen Grenze sichtbar: Als Erdogan die EU durch die Öffnung der Grenzen zu erpressen versuchte, wurde mit scharfer Munition auf geflüchtete Menschen geschossen. Deren Versuche, ins vermeintlich sichere Europa zu gelangen, finden somit an der Aussengrenze der EU ihr jähes Ende. Angesichts der Corona-Pandemie liess Angela Merkel am 17. März 2020 zudem verlauten, man müsse den EU-Türkei-Deal auf «eine neue Stufe» überführen. Die türkische Regierung erhält von der EU also weiterhin Geld für ihre Kriege gegen die kurdische Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien und innerhalb des türkischen Territoriums. Die vor Krieg und Gewalt fliehenden Menschen lässt Präsident Erdogan währenddessen an den Grenzen sterben.

Rojava wird totgeschwiegen

Diese grobe Missachtung der Menschenrechte trübt die Beziehungen des Westens zu autokratischen Regimes aber keineswegs. Denn in einer liberalen Demokratie ist es durchaus möglich, sich vordergründig für Menschenrechte, Gleichstellung und Ökologie zu engagieren, und gleichzeitig die Auslöschung eines Projekts in Kauf zu nehmen, welches genau solche Ziele anstrebt. Somit überrascht es nicht, dass sich hierzulande die Parteien zwar bis ins rechte Lager hinein ökologisch geben und sich für die Gleichstellung der Geschlechter aussprechen, die substantielle Umsetzung jener Forderungen in der Realität dann aber doch nicht unterstützen.

Obwohl die Bewegung in Nord- und Ostsyrien gemeinhin als «progressiv» dargestellt wird, fällt sie der Realpolitik zum Opfer. Denn die EU und die USA schliessen zum angeblichen «Wohl der Allgemeinheit» weiterhin ihre Deals mit autoritären Regimes. Somit tritt zu Tage, was die kritische Theorie schon lange weiss: Die normative Einordnung in «gut und böse», basierend auf vermeintlich geteilten (christlichen) Wertvorstellungen, dient lediglich dazu, den Mythos der liberalen Demokratie als Vorbotin des «ewigen Friedens» zu perpetuieren.

Doch nicht nur innerhalb der politischen Rechten und in den Regierungen der europäischen Staaten herrscht Schweigen zum Thema Rojava. Auch dezidiert linke Medien wie die Schweizer Wochenzeitung WOZ scheuen sich, über das Projekt zu berichten. Als Grund für die Abgrenzung von der kurdischen Bewegung wird oftmals Abdullah Öcalan genannt. Der selbsternannte Begründer des Modells des «Demokratischen Konföderalismus» wird als populistischer Caudillo mit autoritären Tendenzen dargestellt. Diese Bedenken an der Person Öcalan rechtfertigen aber keinesfalls, die basisdemokratische, feministische und ökologische Bewegung in Nord- und Ostsyrien einfach zu ignorieren. Eine solidarische Berichterstattung über das Projekt soll unbedingt auch die negativen Aspekte thematisieren – beispielsweise die hierarchischen und teilweise autoritären Strukturen der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Doch ein empanzipatorisches Projekt zu verunglimpfen, bloss um als kritische Stimme innerhalb der etablierten Medien ernst genommen zu werden, ist kurzsichtig und unsolidarisch. Eine starke Linke muss in der Lage sein, ihre Kritikkultur in eine der solidarischen Kritik zu verwandeln. Ein Projekt bloss zu kritisieren, ohne konkrete Verbesserungsvorschläge anzudenken, dient am Ende mehr der Gegenseite.

Partizipatorische Demokratie und Gleichstellung fordern

Als die amerikanische Regierung im Oktober 2019 den Truppenrückzug aus Syrien verkündete, ging ein Raunen durch die Öffentlichkeit. Sowohl demokratische, also auch republikanische Abgeordnete verurteilten die Entscheidung. Sie bezeichneten, das im Stich lassen von Verbündeten als moralisch verwerflich und «unamerikanisch». Doch genau hier liegt der Hund begraben: Die Bewegung in Nord- und Ostsyrien verdient unsere Unterstützung nicht bloss aufgrund von «säkularen» und «progressiven» Wertvorstellungen, oder weil die SDF den sogenannten «Islamischen Staat» bekämpft. Es ist vielmehr die föderale und emanzipatorische Vision für die Region, die unterstützenswert ist. Diese Menschen kämpfen dafür, patriarchale und feudale Herrschaftsverhältnisse aufzulösen sowie das friedliche Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen. Sie kämpfen für ein wirtschaftliches Modell, in dem nicht ein Prozent mehr verdient als die restlichen 99 Prozent. Sie streben eine Umweltpolitik an, die sich nicht für Profit an der Natur vergreift. Genau deshalb müssen wir uns mit ihrem Kampf solidarisieren. Auch wenn dieser Versuch, ein alternatives Gesellschaftsmodell zu entwickeln, alles andere als perfekt ist, ist es doch ein Schritt in Richtung Emanzipation, Gleichstellung und friedlichem Zusammenleben. Die Lehren, die aus der praktischen Anwendung des Demokratischen Föderalismus in Rojava gezogen werden, dienen als Grundlage für die Weiterentwicklung des Modells. Von der Politik ist keine Untersützung für dieses antistaatliche und dezentrale Gesellschaftsmodell zu erwarten, so viel ist klar. Umso wichtiger ist es, die Bestrebungen nach partizipativen Entscheidungsprozessen, Gleichstellung und Ökologie aus der Gesellschaft heraus zu fördern und mitzutragen.

¹ https://theanarchistlibrary.org/library/murray-bookchin-the-meaning-of-confederalism)

Titelbild: addn.me