Operation Libero: Freiheit, Gleichheit, nationaler Standort

Aus Anlass der wiederholten Überschätzung der Kraft der Argumente durch die Operation Libero: Einige Gedanken über die liberalen Freund*innen einer «weltoffenen und zukunftsgewandten Schweiz» und was ihre Missverständnisse über die bürgerliche Gesellschaft und deren freiheitliche Ideologie besagen.

Im Februar 2014 nahm das Schweizer Stimmvolk die Einwanderungsinitiative der Schweizer Volkspartei (SVP) an. Diese sah eine Kontingentierung der Zuwanderung nach «gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz» (Initiativtext) vor. Eine Hand voll junger, gut ausgebildeter Menschen fand das nicht gut und setzte sich zusammen. «Abend für Abend diskutierten wir bis tief in die Nacht hinein, und tanzten uns die rauchenden Köpfe anschliessend wieder frei» , kann man auf deren Website lesen1. Diskussion und Trunkenheit führten schliesslich zum Unvermeidlichen: Im August 2014 wurde in Bern die Operation Libero gegründet. Seither hat die unter dem sinnfälligen Motto «die Schweiz verwirklichen» antretende «neue Kraft, welche die Schweiz nach vorne tragen wird», immer wieder auf sich aufmerksam gemacht. Besonders nach der Ablehnung der sogenannten «Durchsetzungsinitiative» durften ihre Exponent*innen ihr Zahnpastalächeln in unzählige Pressekameras halten. Die Medienlieblinge um Flavia Kleiner gelten vielerorts als Retter*innen in Not gegen die düsteren Heerscharen der Blochers und Köppels dieser Republik. Um das zu unterstreichen setzen sie sich auf jedes Podium, auf dem es sich Exponent*innen der Auns, der SVP oder der AfD bequem gemacht haben. Dabei unterschätzen sie nicht nur die Kraft des Arguments generell sondern auch die Kraft des eigenen Arguments. Was das Problem dabei ist und warum das den rechten Hetzer*innen in die Karten spielt, wurde im Ajour-Magazin schon an anderer Stelle erklärt.

Trotz ihrer aufdringlichen Selbstüberschätzung und ihrer folgenschweren Irrtümer ist die Operation Libero aber erst mal eine eher nette Erscheinung. Sie vertritt eine recht sympathische Variante des Liberalismus. Die jungen Liberalen engagieren sich für die Gleichberechtigung aller, erleichterte Einbürgerung, steuerfinanzierte Ausbildung, humanitäre Flüchtlingspolitik, eine offene Schweiz und die Entfaltung des Individuums. Wer in der Linken nicht ganz zu Unrecht das Fehlen einer linksliberalen Öffentlichkeit beklagt, der*die sollte eigentlich froh sein über die Gründung des Vereins. Dennoch haben die «Liberas» und «Liberos» ein ganz schlechtes Image in den etwas radikaleren Kreisen der Linken. Das hat einen einfachen und zugleich wenig erquicklichen Grund: Die Operation Libero bearbeitet linke Themenfelder, um ähnliche politische Folgerungen knallhart marktwirtschaftlich – oder sagen wir es deutlicher: kapitalistisch – zu begründen. Die netten Liberalen halten vielen Linken den Spiegel vor, in dem sie vorführen, dass deren vermeintlich radikale Agenda zu grossen Teilen an die zumindest proklamierten Werten und Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft angedockt ist.


Ob Auns, SVP oder AfD, die Operation Libero vertraut aufs Argument. Co-Präsidentin Flavia Kleiner im Gespräch mit Christoph Blocher: «Aber mich erstaunt, dass Sie als erfolgreicher Unternehmer es befürworten, dass der Staat entscheidet, welche Leute Sie anstellen können und welche nicht. Das ist doch letztlich nichts als Planwirtschaft.» Bild: International Students’ Committee

Hier soll es aber um etwas anderes gehen: Was die Liberas offen aussprechen verweist nämlich zugleich auf die Widersprüche eines ernstgenommenen Liberalismus, der sich an der harten kapitalistischen Realität blamieren muss. An der Operation Libero ist nichts weniger nachzuweisen, als die notwendig falschen Vorstellungen der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft über sich selbst – deren Kern man in einem falschen und wenig reflektierten Verständnis von Staat und Individuum findet.

Etatist*innen gegen das Individuum?

Kurz nach der Niederlage der «Durchsetzungsinitiative» zeigte sich die Hauspostille des hässlichsten Flügels der SVP, die Schweizerzeit, als schlechte Verliererin: In einer Holzhammerpolemik qualifizierte ihr Chefredaktor die Politik der Operation Libero als «Etatismus unter liberalem Deckmäntelchen» (Schweizerzeit) ab. Damit war der wohl schlimmstmögliche Vorwurf unter Liberalen erhoben: Die Liberos wollten immer mehr Staat, immer weniger Freiheit und folgerichtig den Tod des Individuums. Doch was hatten sich die Aufrechten zu Schulde kommen lassen? Um es kurz zu machen: Sie vertreten eine liberale Staatsauffassung, haben aber aus den Unwägbarkeiten des Marktes die politische Konsequenz gezogen und fordern, dass der Staat immer wieder eingreifen muss.

Das liest sich dann folgendermassen: «Wir brauchen staatliche Institutionen, um die Freiheit und die Entfaltung des Einzelnen zu ermöglichen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen: der Staat und seine Souveränität sind niemals Selbstzweck. Der Zweck staatlichen Handelns ist stets die Freiheit des Individuums. (…) Wir brauchen den Staat, um die Grundrechte zu schützen, den Wettbewerb zu garantieren und Marktversagen zu korrigieren.» Damit grenzen sich die Liberas nach zwei Seiten ab: Zum einen gegen jene Liberalen, die zwar meist die Notwendigkeit einer staatlichen Garantie des Rechts anerkennen, aber zugleich im Markt als vermeintlichem Gegenpol zum Staat ein Allheilmittel sehen. Dieser soll laut deren Legende und entgegen aller historischen Erfahrung wie theoretischer Erkenntnis aus sich selbst das Beste für die versammelte Menschheit erzeugen. Zum anderen aber grenzen sich die jungen Liberalen auch gegen jene Staatsgläubigen ab, die nicht mehr das Individuum und dessen Glück ins Zentrum der Politik stellen, sondern das nationale Kollektiv. Gegen beide Positionen behält die Operation Libero Recht und wird entsprechend angefeindet, aber sie irrt sich dennoch.

Der Einzelne und seine Bedürfnisse

Die klassische liberale Auffassung sieht vor, dass bei Handlungen grundsätzlich das Glück und die Freiheit der Individuen im Zentrum stehen müssen. Und was diese wollen, wissen sie vermutlich selber am besten. Darum schreibt die Operation Libero: «Wir alle können selbst am besten entscheiden, wie wir leben, wie wir lieben, wie wir arbeiten, wie wir wirtschaften, woran wir glauben wollen. Weder Gesellschaft, Staat noch Politik wissen, was für uns gut ist.» Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet akademisch ausgebildete Kopfarbeiter*innen auf den absurden Gedanken kommen, wir könnten selber entscheiden, wie wir arbeiten und wirtschaften. Wichtiger ist aber, dass bei den Liberos das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft historisch unbestimmt bleibt. Das moderne Individuum kommt erst mit der bürgerlichen Gesellschaft in die Welt und es bleibt an diese Gesellschaft gebunden – an die atomisierte Existenz der Einzelnen als Warentauschende. Das autonome Individuum, das den Liberalen vorschwebt ist eine Fiktion: Zwar «weiss» die Gesellschaft nicht, was wir wollen, aber sie ist das Medium, in dem sich unsere Bedürfnisse erst ausbilden. Unsere Bedürfnisse sind massgeblich gesellschaftlich bestimmt sowie die Mittel zu deren Befriedigung gesellschaftlich vorausgesetzt sind. Man sollte nun nicht eine schlechte Kritik von Bedürfnissen aufmachen, aber niemand hat sich bei seiner Geburt freiwillig entschieden, mittels Lohnarbeit Geld verdienen zu müssen, um dann eine Wohnung zu mieten und ein Smartphone zu kaufen.


Die Operation Libero in Jubelstimmung. «Dem Hedonismus bleibt das Glück ein ausschliessend Subjektives; das besondere Interesse des einzelnen wird so, wie es ist, als das wahre Interesse behauptet und gegen jede Allgemeinheit gerechtfertigt.» (Herbert Marcuse) Bild: Simon Iannelli

Wer das aber alles als gewissermassen naturgegeben akzeptiert, die*der wird auch bloss auf dieselben Forderungen und Werte wie die Operation Libero kommen: «fairer Wettbewerb», «Selbstverantwortung», «Leistung», «Talent und Fleiss». Das ist das brutale Märchen der kapitalistischen Gesellschaft: Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, dann könne es jeder zu Reichtum und Glück schaffen. Das war schon immer Ideologie, aber es wurde spätestens mit dem wirtschaftlichen Einbruch in den 1970ern und den folgenden neoliberalen Angriffen seit den 1980ern zur glatten Lüge. Es ist nicht zuletzt die Konfrontation des Versprechens, dass Fleiss und Talent zu Reichtum führen – das Liberale aller Couleur hoch halten – mit dem faktischen Scheitern an den Härten des Kapitalismus, die die Einzelnen in die Arme autoritärer Rechter treibt. So beisst sich die liberale Ideologie selber in den Schwanz, in dem sie einen Zustand als naturgegeben hinnimmt und eine entsprechende Leistungslogik proklamiert, die immer wieder autoritäre Bewegungen hervorbringt – was der liberale Don Quijote dann natürlich wiederum medienwirksam zu verurteilen weiss.

Hier zeigt sich dann auch in aller Deutlichkeit die Differenz zwischen sozialrevolutionären Positionen und dem netten Liberalismus der Operation Libero: Sozialrevolutionär*innen wollen das gesellschaftliche Elend abschaffen, das die*der Einzelnen Zwänge auferlegt und sie*ihn quält. Und sie wollen eine Gesellschaft, in der die*der Einzelne als Individuum nicht mehr in schroffem Gegensatz zur Gesellschaft steht, sondern ihr*sein Glück gemeinsam mit anderen verfolgt – und nicht wie heute in Konkurrenz aller gegen alle etwa auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Der Liberalismus vom Typus Operation Libero hingegen will den gesellschaftlichen Zustand verewigen, indem jede*r dieselben Chancen eingeräumt und die Rahmenbedingungen freundlicher gemacht werden – eine Absicht übrigens, die er nicht nur historisch mit verschiedenen Varianten der Sozialdemokratie teilt.

Zeig mir deinen Staat und ich sag dir, wer du bist

Die geschichtliche Blindheit rächt sich auch beim Verständnis des Staates. Weil der gesellschaftliche Inhalt nicht historisch reflektiert wird, bleibt die Funktion des Staates falsch bestimmt. Wir haben es im Kapitalismus mit einer Produktionsweise zu tun, die konkurrenzförmig organisiert ist und in der die Akkumulation von Kapital über allem steht: Wenn Firmen keinen Profit machen, schliessen sie über kurz oder lang die Tore. Wenn die Profite nicht wieder investiert werden und die Wirtschaft nicht wächst, stagnieren die betroffenen Firmen oder Nationalökonomien und geraten in der Konkurrenz ins Hintertreffen. Das findet etwa auch in der Wirtschaftswissenschaft und der Politik seinen Niederschlag, beides Disziplinen, die den Wachstumszwang der nationalen Standorte längst akzeptiert und zum höchsten Gute erhoben haben. Der Staat hat dabei dafür Sorge zu tragen, dass die Wirtschaft brummt, will er seine eigene ökonomische Grundlage nicht gefährden. Wer die kapitalistische Produktionsweise und eine entsprechende Gesellschaft akzeptiert, die*der muss den bürgerlichen Staat befürworten. Das haben die Liberas anerkannt. Aber wenn sie freundlich fordern, dass «der Zweck staatlichen Handelns stets die Freiheit des Individuums» sein muss, dann hintertreiben sie die vermeintliche Erkenntnis gleich wieder. Wer die notwendig krisenhafte kapitalistische Ökonomie bejaht, die*der kann zu den krassen Interventionen des Staates nicht Nein sagen: Ob nun mittels milliardenschwerer Bankenrettung, der Einsetzung autokratischer Krisenverwalter oder der Beschränkung von Grundrechten, der Staat hat bei Strafe des Untergangs eine funktionierende Wirtschaft und den Zusammenhalt der Gesellschaft zu garantieren.


Ein bisschen gesunder Nationalismus muss sein: «Wir sind stolz auf unsere Eigenheiten und Werte, auf die kulturelle Vielfalt in unserem Land, auf unsere wirtschaftliche Prosperität.» (Operation Libero) Bild: Aleksandra Zdravkovic

Denn der kapitalistische Laden brummt nun mal nicht immer, auch wenn die Operation Libero behauptet, «eine milliardenfache globale Arbeitsteilung und ein lebendiger Austausch von Ideen, Technologien, Dienstleistungen und Produkten sind die besten Garanten für Wohlstand und Fortschritt.» Eine Garantie für Wohlstand (für wen eigentlich?) und Fortschritt (wohin eigentlich?) ist das alles nicht. Das sieht man schon daran, dass in den krassen Kriseneinbrüchen, zuletzt nach 2008 der Staat massiv in die Wirtschaft eingreifen musste und dies auch immer noch tut – die Staatsquote der Schweiz liegt stabil bei über 30 Prozent. Um es abzukürzen: Der Staat ist ein Moloch, der immer wieder brutal in die Leben von Menschen eingreift, aber er ist im Kapitalismus eben unerlässlich und zwar auch und gerade mit seinem harten Eingreifen. Man wird den Staat und seine Übergriffe erst los, wenn man den ökonomischen und gesellschaftlichen Inhalt überwindet, den er organisieren muss. Aber über so etwas darf natürlich nicht nachdenken, wer den Kapitalismus zur besten aller möglichen Welten verklärt. Das ist ein zentraler Widerspruch der liberalen Ideologie: Die Brutalität des staatlichen Handelns erfolgt nicht aus bösem Willen, sondern aus den Anforderungen einer polit-ökonomischen Welt, die der Liberalismus verewigen will.

Die Schweiz verwirklichen

Vor diesem Hintergrund zeigt sich dann auch, wie naiv die Operation Libero argumentiert, wenn sie schreibt: «Der Staat ist lediglich eine Ansammlung von Institutionen, die im Dienste der Gesellschaft stehen. Eine kollektive Identität zu stiften oder zu verteidigen, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, ist nicht seine Aufgabe.» Der Staat steht nicht einfach «im Dienste der Gesellschaft». Er muss den Zusammenhalt der kapitalistischen Gesellschaft garantieren. Ob der Staat dabei autoritärere oder liberalere Formen annimmt, hängt ganz wesentlich davon ab, ob die kapitalistische Wirtschaft brummt und – damit verbunden – ob der gesellschaftliche Zusammenhalt garantiert ist. Die Weltgeschichte ist voller blutiger Beispiele, in denen die autoritäre Wende durch die demokratischen Institutionen vollzogen wurde, um das nationale Kollektiv und dessen Wirtschaft zu retten. Zwar können die Liberas blauäugig erklären, dass «Demokratie das mit Abstand beste Verfahren» sei, aber sie beziehen die Form nicht auf die Dynamik des gesellschaftlichen Inhalts und den historisch unterschiedlichen Anforderungen an die politische Form. Damit bleiben sie blind für den Widerspruch ihrer Konstruktion des demokratisch-liberalen Nationalen.

Folgerichtig beziehen sich unsere netten Liberalen positiv auf die Nation und reden ständig von der «Schweiz als Chancenland» und davon, dass man die «Schweiz verwirklichen» müsse. Dummerweise verwirklicht sich die Schweiz aber eben nicht durch die Kampagnen, Hirngespinste und Marketinggags liberaler Akademiker*innen, sondern durch die ökonomische Durchsetzung auf einem krisenhaften Weltmarkt und der entsprechenden Politik gegen Innen und Aussen.

Und diesem nationalen Projekt sind dann auf der Grundlage eines falschen Verständnisses von Staat, Wirtschaft und Individuum die Forderungen von Operation Libero letztlich auch ziemlich gut angepasst: Eine steuerfinanzierte Grundausbildung, um das Leistungsprinzip und freien Wettbewerb zu fördern; Widerstand gegen Zuwanderungsquoten, um ein «planwirtschaftliches Monster zu verhindern» und den Arbeitsmarkt mit frischen Kräften zu versorgen; erleichterte Einbürgerung, damit jeder Steuerzahler dieselben Chancen und demokratischen Rechte erhält; erwerbsabhängige Steuergutschriften, damit Geringverdiener nicht mehr vom Arbeiten abgehalten werden. Bei näherer Betrachtung stellen sich die vorderhand sympathischen Forderungen der Liberos als das heraus, als was sie konzipiert sind: Ein Projekt zur Effizienzsteigerung eines nett dekorierten nationalen Standorts unter widersprüchlichen theoretischen Vorannahmen.

  1. Alle Zitate, sofern nicht anders vermerkt, stammen von der Website der Operation Libero.

Titelbild: Jos Schmid