«Solidarität ist wichtig, reicht aber nicht aus» – Interview mit Sherwan Bery vom kurdischen Roten Halbmond

Wir veröffentlichen dieses Interview mit Sherwan Bery, dem Co-Vorsitzenden von Heyva Sor, dem kurdischen Roten Halbmond, zusammen mit dem von der Gastautautor*in verfassten Kommentar «Die Solidarität mit Rojava endet dort, wo der Nationalstaat beginnt». Das Interview wurde bereits Anfang Jahr geführt. Aber gerade die Coronapandemie stellt die Bevölkerung Rojavas und den kurdischen roten Halbmond vor grosse medizinische Herausforderungen.

Sherwan Bery, Co-Vorsitzender des kurdischen roten Halbmondes, fordert die europäischen Staaten dazu auf, der Besatzung in Nord- und Ostsyrien ein Ende zu bereiten. Im Interview beschreibt er die Auswirkungen der türkischen Invasion im Oktober 2019 auf die Menschen sowie die Arbeit seiner Organisation.

Ajour: Sherwan Bery, Sie waren in den vergangenen Wochen in Deutschland und der Schweiz unterwegs, um die Menschen hier über die humanitäre Lage in Nord und Ostsyrien zu informieren. Was versprechen Sie sich davon?

Sherwan Bery: Wir haben uns hier in Europa mit solidarischen Menschen und Organisationen getroffen, um uns bei ihnen für ihre Unterstützung zu bedanken. In Deutschland haben wir uns ausserdem mit Kommunalpolitikern und verschiedenen christlichen Wohltätigkeitsvereinen getroffen, um gemeinsame Pläne für Projekte vor Ort zu diskutieren. Auch in Zürich trafen wir uns diesbezüglich mit Vertreterinnen aus dem Stadt- und Gemeinderat.

Ajour: Nach dem Angriff der Türkei im vergangenen Oktober war die Solidarität mit der Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien deutlich spürbar. Auch in der Schweiz gingen die Menschen auf die Strasse. Hilft Ihnen diese Solidarität vor Ort?

Sherwan Bery: Solidarität ist sehr wichtig. Sie kann einen dazu motivieren weiter zu machen, wenn man ans Aufgeben denkt. Jedoch reicht es nicht aus, solidarisch zu sein, um die Kriegsverbrechen und den forcierten demographischen Wandel zu stoppen. Zur Zeit werden Geflüchtete aus anderen Teilen Syriens aus der Türkei deportiert und in der Region angesiedelt. Vermehrt lassen sich auch vom türkischen Staat unterstützte islamistische Milizionäre samt ihren Familien in den Häusern der vertriebenen Menschen nieder. Bis jetzt gibt es aber niemanden, der die Türkei stoppt.

Ajour: Im Gegenteil, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat der türkischen Regierung vor einigen Tagen ihre Unterstützung für den Bau von Unterkünften in der sogenannten «türkischen Sicherheitszone in Nordsyrien» zugesagt.

Sherwan Bery: Deutschland hat sich nie ernsthaft gegen die Pläne der Türkei, in Syrien einzumarschieren, gewehrt. Dasselbe gilt für die vereinten Nationen, auch sie haben sich nirgends klar zu den Menschenrechtsverletzungen in Afrin, Ras al Ain und Tel Abyad geäussert. Zivilist*innen wurden dort wiederholt zur Zielscheibe von Angriffen, wie auch Spitäler, Kliniken und Ambulanzen. Zwei unserer eigenen Mitarbeiter*innen sowie drei Sanitäterinnen aus den Reihen der Selbstverwaltung wurden auf diese Weise getötet. Sogar die Hinweise auf den möglichen Einsatz von chemischen Waffen, die unsere Organisation gesammelt und an verschiedene Stellen weitergeleitet hat, blieben unbeantwortet.

Ajour: Laut Einschätzungen der UNO hat der türkische Angriff im Oktober rund 200’000 Menschen dazu veranlasst, ihre Dörfer nahe der türkischen Grenze zu verlassen. Konnten diese nun in ihre Häuser zurückkehren?

Sherwan Bery: Tatsächlich sind viele aus den Lagern im Nordirak nach Syrien zurückgekehrt. Im Flüchtlingslager Bardarash in der Nähe von Dohuk befinden sich nur noch wenige Syrer*innen, da die Umstände im Lager sehr schlecht waren. Doch sie können bis heute nicht in ihre Häuser zurückkehren, da diese in der Zwischenzeit von Milizionären besetzt wurden, welche von den rechtmässigen Besitzer*innen Geld für die Räumung verlangen. Jene, die mit der Autonomiebehörde in Verbindung gebracht werden, haben sowieso keine Chance auf eine Heimkehr. Ihnen droht in den besetzen Gebieten das Gefängnis oder gar Schlimmeres. Zu dieser Kategorie wird auch das Personal des kurdischen Roten Halbmonds gezählt. Rund hundert unserer Mitarbeitenden können deshalb nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren. Und das, obwohl wir eine von der Selbstverwaltung unabhängige Organisation sind.

Ajour: Welche Auswirkungen hatte der türkische Angriff auf die Arbeit des kurdischen Roten Halbmondes?

Sherwan Bery: Vor dem Angriff im letzten Herbst waren wir daran, unsere Aktivitäten auszuweiten. Zusätzlich zu dem geleisteten Notfallschutz wollten wir die Vertriebenen in den Flüchtlingslagern auch psychologisch unterstützen. Vor allem die Kinder leiden enorm unter den Folgen des Kriegs. Aber auch bei den Erwachsenen stellen wir eine erhöhte Anzahl von Herzinfarkten und Selbstmorden aufgrund von Traumata fest. Seit dem Angriff mussten wir jegliche Bestrebungen in diese Richtung jedoch einstellen.

Ajour: Wenn Sie heute die Aufmerksamkeit von Regierungen und internationalen Organisationen hätten, was würden Sie diesen mitteilen?

Sherwan Bery: Dass sie die Invasion der Türkei stoppen sollen. Denn die Menschen in Nord- und Ostsyrien wollen in ihre eigenen Häuser und Dörfer zurückkehren und nicht in irgendwelche Unterkünfte, die man für sie baut. Ich glaube, dass die Europäische Union die türkische Besatzung beenden könnte, wenn sie wirklich wollte. Ausserdem müssen die Vereinten Nationen endlich die in Nordsyrien entstandenen Flüchtlingslager wie beispielsweise Washokani, in dem über 6000 Binnenflüchtlinge aus Ras al Ain und Tel Abyad leben, anerkennen. Wir brauchen auch weiterhin humanitäre Hilfe.

Mehr zu Sherwan Bery

Sherwan Bery ist Co-Leiter von Heyva Sor a Kurd, einer nicht staatlichen Organisation aus Nord- und Ostsyrien, die den Prinzipien des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) folgt. Offiziell gehört der kurdische Rote Halbmond jedoch nicht zur Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung, weshalb sich die Organisation über Spenden aus der kurdischen Diaspora, der Europäischen Union und über die United States Agency for International Development (USAID) finanziert. Heyva Sor a Kurd arbeitet stellenweise mit der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien zusammen, erhält von dieser aber keine Unterstützung. Sowohl die Regierung in Damaskus wie auch das IKRK erkennen neben dem Syrisch-Arabischen Roten Halbmond keine weitere nationale Rothalbmond-Gesellschaft in Syrien an.

Titelbild: Heyva Sor