Der internationale Kongress gegen kapitalistische Stadtentwicklung bot Raum zum Erfahrungsaustausch zwischen verschiedenen Städten. Ein Bericht.

Am Wochenende vom 26.–28. Mai 2017 luden die Organisator*innen aus der kommunistischen, anarchistischen und autonomen Bewegung zum ersten internationalen Kongress gegen kapitalistische Stadtentwicklung auf dem Koch-Areal, dem grössten besetzten Areal in Zürich, ein.

«Wir denken, dass der hiesigen Bewegung Anlässe fehlen, an denen man Erfahrungen austauscht, an denen man ausgehend von diesen Erfahrungen verallgemeinert, an denen man versucht, eine Kontinuität zwischen den einzelnen Ereignissen hinzukriegen. Wir finden das falsch. Es entspricht auch einer Selbstkritik aus der Bewegung, dass wir diesen Kongress jetzt organisieren. Es braucht kollektive Momente des Austauschs und der Debatte, genauso wie es zu anderen politischen Themen solche Anlässe gibt. Der Kongress soll dazu eine Gelegenheit sein. Wir denken, dass es angesichts der Rasanz und Dimensionen der Stadtentwicklung höchste Zeit ist, sich diesem Thema mit der gebotenen Ernsthaftigkeit anzunehmen – das heisst mit der gebotenen Konsequenz und Radikalität. Sich dazu nicht zu verhalten oder zu positionieren heisst letztlich, der Gegenseite das Feld zu überlassen. Sich nicht zu fragen, wie einzelne Initiativen zueinander in Relation gesetzt werden und auf eine gemeinsame Perspektive hinwirken können, heisst, sich mit Teilforderungen abzufinden statt alles zu fordern. Wir wollen nicht nur ein Haus, wir wollen die Stadt.» So beschrieben die Organisator*innen auf dem verteilten Faltblatt die politische Motivation und den Anspruch an diesen Kongress. In den vergangenen Jahren fanden in den Schweizer Städten neben Hausbesetzungen mehrere ‹Tanz dich frei› und ‹Reclaim the Streets›-Demonstrationen statt, aber Debatten über gewonnene Erkenntnisse aus der Praxis wurden bisher kaum organisationsübergreifend geführt.

Von Berlin Alt-Treptow…
Der Kongress wurde am Freitagabend mit dem Film «Verdrängung hat viele Gesichter» eröffnet.

Darin dokumentiert die anarchistische Regisseur*in Samira aus der Perspektive von unten die rasanten Veränderungen des Berliner Kiezes Alt-Treptow von 2009 bis 2015 und den Kampf der lokalen Aktivist*innen gegen die Verdrängung. Der Widerstand entzündete sich 2009 an der Fällung einer Gruppe Pappeln für den Neubau einer Baugruppe. Seither sind Baugruppen – der Zusammenschluss mehrerer mittelständischer Partien (meist junge Familien und Paare), die gemeinsam ein Grundstück kaufen, Eigentumswohnungen in Mehrfamilienhäusern planen und bauen – ein wichtiger Treiber der Gentrifizierung in Alt-Treptow. In aufwändiger Basisarbeit versuchen die Aktivist*innen der Gruppe Karla Pappel aus dem Kiez die Bewohner*innen vor Ort anzusprechen und zu mobilisieren mit verschiedenen Aktionsformen: Standaktionen vor Billigdiscountern, eine Suppenküche unter dem Titel ‹Hier kocht die Wut› neben der Suppenküche der Kirche, Picknicks im Park in der Sommerferienzeit, von Tür zu Tür Flyer verteilen bei bedrohten Wohnblocks, moderiertes offenes Mikrofon, Demos und Farbangriffe gegen Bauträger teurer Neubauten, etc.

Am Samstagnachmittag fand eine Diskussion mit der Regisseur*in Samira über die Perspektiven und Herausforderungen von Basisarbeit statt. Sie betonte, dass man auf Augenhöhe auf die Leute zugehen müsse und so oft auch Strategien und Tricks von unten im Umgang mit Armut zu hören bekomme. Einigen alteingesessenen Bewohner*innen sei ihr nachbarschaftliches soziales Umfeld so wichtig, dass sie sogar bei Heizung und Essen sparen und frieren und hungern, um die Miete noch knapp bezahlen zu können. Man solle die eigene grundsätzliche Perspektive einer anderen Gesellschaft mitvermitteln und die Mietfrage mit der Eigentumsfrage verbinden. Die Diskussion drehte sich bald darum, dass Armut und marginalisierte Bewohner*innen immer mehr aus dem aufgewerteten Stadtbild verschwinden. Einerseits nimmt neben der Verdrängung durch steigende Mieten auch die Repression im öffentlichen Raum zu gegen alle, die nicht ins gesäuberte Stadtbild von oben passen, andererseits versuchen auch viele Marginalisierte ihre Armut zu verstecken. Samira äusserte auch Kritik an der linken Szene: Die radikale Linke sei zu stark auf die Subkultur bezogen und zu selbstreferentiell, sodass sie für andere Milieus zu wenig zugänglich und anschlussfähig sei. Die individualistische Ideologie der heutigen kapitalistischen Gesellschaft habe auch vor der Linken nicht Halt gemacht. Wir müssen wieder beginnen, unsere ökonomische Situation nicht als individuelles Problem zu sehen, sondern uns über unsere Alltagsrealitäten austauschen und sie in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang begreifen und bekämpfen.

… über Marseille La Plaine …
Am Samstagabend präsentierte der Aktivist und Autor Alèssi dell’Umbria seine Analyse des kapitalistischen Urbanismus in Frankreich und Europa und berichtete vom Widerstand gegen die Gentrifizierung seines proletarischen Quartiers La Plaine in Marseille. Seit der Zeit nach den Aufständen von 1848 werden die Städte von oben kapitalistisch-industriell entwickelt und Stadtentwicklung dient immer auch der Beherrschung und Kontrolle der Bevölkerung. Diese erste Phase der kapitalistischen Stadtentwicklung im 19. Jahrhundert war charakterisiert durch die Errichtung grosser Boulevards, die der herrschenden Klasse zur Repräsentation und militärischen Zwecken dienten und für die Teile von alten Arbeiter*innenquartieren platt gemacht wurden.


Enge Gasse, gefährliche Klasse. Commune de Paris 1871.

Die zweite Phase, die um 1930 begann und nach dem Zweiten Weltkrieg dominant wurde, übertrug das Prinzip der arbeitsteiligen Produktionsweise einer Fabrik auf die Stadt. Der sogenannte funktionale Städtebau teilte die Stadt in vier räumlich getrennte Zonen: Arbeiten, Wohnen, Handel und Freizeit. Dies führte zur Auflösung der alten, nutzungsdurchmischten Arbeiter*innenquartiere in der Innenstadt und leblose Schlafstädte in der Peripherie mit langen Pendeldistanzen entstanden – die Banlieues, in denen die Jugend seit den 1980er-Jahren immer wieder revoltiert. Jetzt befinden wir uns in der dritten Phase, der Phase der Metropolen. Der Kapitalismus hat die Grenzen zwischen Stadt und Land verwischt. Das Umland und die Dörfer werden zu den Ausläufern in Abhängigkeit der Stadt. Viele Nicht-Orte ohne Verwurzelung gekennzeichnet durch Einkaufszentren, Bürokomplexe und Parkplätze sind in den Agglomerationen entstanden. Die Menschen sind sich dieser austauschbaren Nicht-Orte bewusst. Um den Niedergang der Industrien in den Städten ökonomisch zu kompensieren, setzen die Stadtregierungen auf die Aufwertung der historischen Altstadtquartiere, um sie als Themenparks und Spektakel hergerichtet an Tourist*innen zu verkaufen.
Dies versucht die Marseiller Stadtregierung momentan mit dem innerstädtischen, proletarischen Quartier La Plaine, in dem seit den 1980er-Jahren viele autonome Räume existieren und sich Solidarität zwischen den Bewohner*innen aufgebaut hat. Der Widerstand begann 2012, als sich gegen die Installierung von Videoüberwachung die Quartierversammlung gründete. Vor zwei Jahren gab die Stadtregierung bekannt, dass sie den zentralen Platz in La Plaine totalsanieren wolle. Auf dem Platz findet ein regelmässiger Markt statt, wo die Bewohner*innen günstig einkaufen, und am Nachmittag spielen dort Jugendliche Fussball. Die Stadtregierung will die öffentlichen Sitzbänke entfernen, den Platz für Caféterrassen privatisieren und die angrenzenden Ladenlokale an Boutiquen vergeben. Um zu zeigen, dass sie sich nicht vertreiben lassen, haben Aktivist*innen Tische und Bänke auf dem Platz einbetoniert. Als die Stadtregierung sie abmontieren liess, eilten Bewohner*innen zu Hilfe, indem sie sich auf die Bänke setzten und Tage später doppelt so viele Bänke auf dem Platz installierten. Neben der Quartierversammlung, an der je nach aktueller Situation 10 bis 300 Leute teilnehmen, spielt der jährliche Carnaval Sauvage, der Ausdruck proletarischer Kultur ist, eine wichtige Rolle für den Widerstand. Der Baubeginn für die Platzsanierung ist für 2018 vorgesehen und die Bewohner*innen sind bereit, ihr Quartier gegen Aufwertung und Verdrängung zu verteidigen.

… nach Zürich-Altstetten…
Der letzte Tag des Kongresses begann mit einem Quartierrundgang rund um das Koch-Areal, denn in Zürich-Altstetten zeigen sich viele aktuelle Phänomene der kapitalistischen Stadtentwicklung. Mit kurzen Redebeiträgen wurde auf die Aufwertung des Quartiers hingewiesen, der Raum für die Autonomie und das Ferlernen RAF-ASZ auf dem Koch-Areal vorgestellt, die Rolle von Zwischennutzungen zur Bekämpfung von Besetzungen kritisch betrachtet, Gentrifizierungsprojekte mit vorgeschobenen ökologischen Argumenten entlarvt und aufgezeigt, was für Überwachungs- und Repressionsmöglichkeiten im Rahmen der Smart Cities auf uns zukommen können.

… und Basel St. Johann…
Anschliessend berichteten am Sonntagnachmittag Aktivist*innen von der Wasserstrasse in Basel von ihren widersprüchlichen Erfahrungen im gemeinsamen Kampf mit den benachbarten Mieter*innen der Mülhauserstrasse 26 im früher migrantischen, industriellen Quartier St. Johann. Das 1968 erbaute Mehrfamilienhaus an der Mülhauserstrasse 26 gehört der Pensionskasse Basel-Stadt. Die meisten der Bewohner*innen wohnten seit Jahrzenten im Haus, kannten sich, waren alt und lebten von einer tiefen Rente. Immobilien sind für Pensionskassen wichtige Renditeobjekte, insbesondere in der Krise. Alle 22 Mietpartien erhielten im März 2016 die Kündigung aufgrund einer vorgesehenen Totalsanierung. Die Miete für eine 4.5-Zimmerwohnung sollte dadurch von 900 auf 2’600 Fr. erhöht werden.


Graffiti in Solidarität mit dem Mieter*innenkampf in der «Mülhi 26» in Basel. Bild: D’Made im Daig.

Nachdem sie von der Kündigung erfahren hatten, kontaktierten Leute von der benachbarten und ehemals umkämpften Wasserstrasse die Bewohner*innen. Es entwickelte sich über die Zeit ein freundschaftliches Vertrauensverhältnis. Die Wut der Bewohner*innen gegen ihre Pensionskasse war gross, aber sie hatten zuerst keinen Mut sich gegen die Behörden zu wehren und viele zogen aus. Die Unterstützer*innen haben gemeinsam mit den verbliebenen Bewohner*innen öffentlichen Druck aufgebaut durch eine Petition zusammen mit einem Nachbarschaftsbrief und einer Demonstration mit 500 Teilnehmenden. Den Unterstützer*innen war es wichtig, die Bewohner*innen nicht zu instrumentalisieren und sie gingen bei der Wahl der Aktionsformen auf die Bewohner*innen ein. Die Bewohner*innen haben viel selbst öffentlich gesprochen und geschrieben. Im Februar 2017 wurde eine bereits leere Wohnung besetzt und darin das Büro für Solidarität eingerichtet. Die Besetzer*innen unterstützten die Bewohner*innen nicht nur in ihrem Kampf sondern auch praktisch im Alltag und die Bewohner*innen solidarisierten sich mit der Besetzung. Kurzfristig und mit viel Druck hat die Pensionskasse den verbliebenen vier Partien im Haus ein besseres Angebot gemacht: Sie können nach der Sanierung zu einer Mieterhöhung von 60 Prozent ins Haus zurückkehren und bekommen eine Zwischenlösung während der Sanierungszeit. Sie waren erschöpft und haben das Angebot schliesslich angenommen. Dies war für die Unterstützer*innen ein Dilemma, aber sie wollten auch keine zusätzliche Belastung für die Bewohner*innen schaffen. Die Bewohner*innen hatten vorher noch nie gekämpft und eine besonders schöne Erfahrung war, dass dieser Kampf für eine 92-jährige Bewohnerin ein bedeutendes emanzipatorisches Erlebnis darstellte. Selbstkritisch reflektierten die Unterstützer*innen, dass sie vernachlässigt hätten, die leer gewordenen Wohnungen schnell wieder mit Leben zu füllen, um die Sanierungspläne so aufzuhalten. In Basel hat sich nun ein regelmässig stattfindender Haustreff gegründet, der grösser wird, denn es gab in Basel mehrere Massenkündigungen.

… der gemeinsame Kampf gegen kapitalistische Stadtentwicklung…
Den Abschluss des Kongresses bildete ein Städteaustausch, um von den verschiedenen praktischen Erfahrungen zu lernen. Aktivist*innen von den bedrohten Stefanini-Häusern in Winterthur wiesen auf die Schwierigkeit hin, dass viele Bewohner*innen erst interessiert seien sich zu organisieren, wenn sie akut von einer Räumung bedroht sind. Samira aus Berlin und die Vertreter*innen aus Basel waren bei ihrer Basisarbeit auch vereinzelt mit rassistischen Annahmen von Bewohner*innen konfrontiert. Wie die Beispiele aus Basel, Marseille und Berlin zeigen, ist für eine erfolgreiche Organisierung Zusammenhalt und Vertrauen zwischen den Nachbar*innen erforderlich, was Zeit braucht um zu wachsen. Auch wenn sich die Phänomene der Gentrifizierung in den verschiedenen Städten und Quartieren auf unterschiedliche Arten zeigen können, so wurde doch klar, dass die Städte im Kapitalismus nach den herrschenden Interessen und gegen unsere entwickelt werden und wir dem nur kollektiv unsere Bedürfnisse entgegen setzen können.

… geht weiter.
Zum Schluss riefen die Organisator*innen dazu auf, den nächsten Kongress in einem halben Jahr oder einem Jahr zu veranstalten. Interessierte sind eingeladen, beizeiten die Organisation des zweiten internationalen Kongresses gegen kapitalistische Stadtentwicklung aufzugleisen – gerne auch in einer anderen Stadt als Zürich. Denn bis zur Aneignung der Stadt und der Kollektivierung des Bodens liegt noch ein weiter Weg vor uns. Zuerst geht’s aber in einem etwas kleineren Rahmen weiter mit einer Sitzung zum Thema Mitte Juni in Zürich. Infos zu Zeit und Ort der Sitzung erhaltet ihr von den Genoss*innen eures Vertrauens.