Der ganz persönliche Krieg der Jeanne d’Arc der Pressefreiheit

Michèle Binswanger hat im Tagesanzeiger (Paywall) einmal mehr einen formal wie inhaltlich beachtlich dürren Kommentar zustande gebracht. Sein Inhalt: Klimabewegte, BLM-Demonstrantinnen, Hippies, Esoteriker, Nazis und Reichsbürger wollen unsere offene Gesellschaft in den Totalitarismus stürzen. Der originellste Satz des Textes stammt aus dem Manifest der Kommunistischen Partei und war spätestens 1968 aufgebraucht: «Ein Gespenst geht um in Europa».

Früher einmal trugen im kommentierenden Journalismus entweder der originelle Gedanke – der zumindest irgendwie mit der Realität verbunden sein musste – oder aber die elegante Form durch den Text. Bei Binswanger ist von beidem keine Spur. Im Tagi wird dieser Umstand prahlerisch zur «Analyse zu aktuellen Protesten» hochgelabelt. Offenbar ist am Verfall der Medien, wie ihn etwa die ‹Republik› in einer ewigwährenden Werbekampagne beklagt, etwas dran.

Wie es bei Michèle Binswanger so ist, geht es im Text eigentlich vor allem um eines: Michèle Binswanger. Oder genauer: Die Öffentlichkeit wird einmal mehr mit einer ganz persönlichen Projektion aus dem Kopfe der Autorin belästigt, die an zwei fast beliebigen äusseren Figuren entwickelt wird. Dieses Mal werden Schriftstellerin Sibylle Berg und Juso-Präsidentin Ronja Jansen als Verbrecherinnen an der Menschheit entlarvt. Beide bedienten sich bei marxistischem Gedankengut und propagierten den Kommunismus als Ziel, heisst es im Kommentar.

Die eigentliche «Analyse», die die waghalsige These von der amorphen Masse der Totalitären stützen soll, findet sich grob in zwei Sätzen: «Der Denkfehler [von Berg und Jansen] liegt darin, dass die ersehnte Lösung durch Marxismus sich auch nicht so sehr von den Lösungen von Reichsbürgern, Qanon- und Putin-Anhängern unterscheidet. Mit ihrer Forderung nach totaler Revolution reden sie letztlich einem Totalitarismus das Wort.»

Die Beweisführung beschränkt sich auf den Versuch, eine Tautologie gegen jede äussere Tatsache zur Geltung zu bringen: Eine «totale» Revolution muss «letztlich» irgendwas mit dem Totalitarismus zu tun haben. Sonst würde sie ja nicht so heissen, oder? Das ist keine inhaltliche Bestimmung von irgendwas und hat insbesondere nichts mit einer Juso-Präsidentin wie Jansen zu tun.

Ein ähnlich verwegenes Manöver lässt schliesslich alles durcheinanderpurzeln: Die Lösung von Marxistinnen und Reichsbürgern würde sich «nicht so sehr» unterscheiden, wird ganz unbesehen des jeweiligen Inhalts behauptet. Nun, die einen wollen eine Gesellschaft, in der alle nach Bedürfnis und Fähigkeit leben können und in der Differenz erst angstfrei möglich wäre; die anderen wollen eine rassistisch strukturierte autoritäre Volksgemeinschaft in der Differenz ausgemerzt wird.

Man weiss nicht genau, woher Binswanger das Material für ihren Kommentar nimmt, wie und von wo es in ihren Kopf eingewandert ist. Es handelt sich ganz offensichtlich um ein Phantasma, darum kommt man nicht ganz drum herum, sich mit der Autorin selbst zu beschäftigen. Es ist – zumindest mir – nicht bekannt, an welchem Punkt in ihrer ganz persönlichen Geschichte Michèle Binswanger jede Distanz zu sich selbst verloren hat. Offensichtlich ist aber: Der Frau, die sich auf Twitter als Jeanne d’Arc der Pressefreiheit bezeichnet, ist die Fähigkeit zur Selbstreflexion in einem Unglück abhanden gekommen. Und so ist ihr geistiger Zerfall zwangsläufig ganz von den äusseren Umständen bestimmt; insbesondere von den vielen Feinden, von denen sie sich umgeben wähnt: Linke, Nette, Feministinnen, Marxistinnen.

Das aber ist genau der Modus in dem rechte Knallchargen in verfolgender Unschuld operieren. Wäre man Michèle Binswanger würde man nun Reichsbürger, Hippies, Nazis und eine mittelmässige Tagi-Lohnschreiberin zur Einheit zurechtschreiben. Stattdessen lässt man dem Unglück besser seinen Lauf: Eine Kolumne in der Weltwoche hat Binswanger bereits abgeliefert.