Geflüchtete gegen Zürcher Sicherheitsdirektion: «Wir wollen nicht zurück in den Bunker!»

Am Mittwoch, 7. Oktober 2020 haben sich zwei Asylsuchende bei einem Sprung aus dem Fenster eines Gebäudes im Zürcher Kreis 4 schwer verletzt. Insgesamt 36 Menschen sind dort in Quarantäne eingesperrt und fürchten sich vor der Rückkehr in ihre Unterkunft – einen unterirdischen Bunker. Nach der Verzweiflungstat diffamiert die verantwortliche Behörde die Betroffenen in einer Pressemitteilung.

Etwa hundert Personen versammelten sich am Donnerstagnachmittag, 8. Oktober 2020 vor dem ehemaligen Pflegezentrum Erlenhof an der Lagerstrasse im Zürcher Kreis 4. Es war ein kurzer Moment der Solidarität mit den 36 Asylsuchenden, die sich seit Tagen im Zentrum befinden und verschiedentlich auf ihre prekäre Situation aufmerksam machen. Das mediale Interesse der vergangenen Tage und wohl auch die harsche Kritik die Sicherheitsdirektor Mario Fehr entgegenschlägt, haben zu fast schon absurder Polizeipräsenz geführt. In allen Seitenstrassen stehen Polizist*innen in Vollmontur und sogar Polizeisprecher Marco Cortesi ist da und spricht in die zahlreichen Kameras. Vereinzelt sind Rufe der Asylsuchenden zu hören, die von der überschaubaren Menge jeweils erwidert werden.

Es ist ein Zeichen gegen die Geschehnisse der vergangenen Tage und gegen die nach Ende der Quarantäne drohende Rückführung der Bewohner*innen in den Bunker in Urdorf. Vor der Demonstration sagt Ahmad (Name geändert) dem Ajour Magazin am Telefon: «Helft uns, damit wir nicht in den Bunker zurückkehren müssen!» Ahmad ist einer der Bewohner*innen der sogenannten Notunterkunft (NUK) Urdorf (Kanton Zürich), der sich mit dem Coronavirus angesteckt hat und im ersten Stock der provisorischen Pflegeunterkunft im Kreis 4 einquartiert ist.

Unglück mit Ansage

Letzte Woche passierte das Unvermeidliche: In der Asylunterkunft in Urdorf brach das Coronavirus aus. Es kam zur lange befürchteten Massenansteckung im engen unterirdischen Bunker. 16 der 36 Insass*innen steckten sich mit dem Virus an. Aktivist*innen und Ärzt*innen hatten seit Monaten von diesem Szenario gewarnt – im vergangenen April schloss sich sogar Mario Fehrs Sozialdemokratische Partei der Forderung nach einer Schliessung des Bunkers an. Doch dazu kam es nicht. Fehr hielt unbeirrt an der unterirdischen Unterkunft in Urdorf fest.

Zwar berichteten die Medien während der letzten Tage über die Ausbreitung des Coronavirus in der NUK Urdorf, doch die Empörung über die Aufrechterhaltung des Bunkers als Ursache für die Massenansteckung blieb aus. Fast schon trotzig verwies die Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich am 2. April 2020 in einer Pressemitteilung auf die Notwendigkeit der NUK. Im gleichen Atemzug diffamierte sie die Geflüchteten, indem sie ein bedrohliches Bild von kriminellen abgewiesenen Asylbewerbern zeichnete. Mario Fehr klopfte sich in der Pressemitteilung sogar noch selbst auf die Schulter: «Wir haben in einer für alle in der Schweiz schwierigen Situation das Bestmögliche für die Menschen im Asylbereich erreicht.»

Als in den letzten Tagen die Covid19-Fälle in der NUK Urdorf bekannt wurden, kam die Reaktion von Mario Fehrs Behörde postwendend: Der Bunker wurde evakuiert und die Erkrankten sowie die übrigen Bewohner*innen wurden in der Folge im ehemaligen Pflegezentrum Erlenhof untergebracht. In einer Pressemitteilung vom 2. Oktober 2020 betonte die Sicherheitsdirektion vorauseilend, dass sie keinesfalls daran denke, den Bunker nun zu schliessen: «Die Quarantäne wird voraussichtlich zehn Tage dauern. Danach werden alle abgewiesenen, straffälligen Asylbewerber in das RKZ Urdorf zurückkehren», kündigte sie damals an.

Doch damit nicht genug. Als am 7. Oktober 2020 bekannt wurde, dass zwei der Asylsuchenden aus dem Fenster des ehemaligen Pflegezentrums Erlenhof gesprungen sind und sich dabei verletzten, wartete die Sicherheitsdirektion im Handumdrehen mit einer weiteren Pressemitteilung auf: Statt auch nur ein Wort des Bedauerns zu äussern, wurde die Verzweiflungstat scharf verurteilt.

«Lebendig aber trotzdem tot»

Die beiden Asylsuchenden hatten befürchtet, dass sie nach der Quarantäne wieder nach Urdorf kommen und sich dort anstecken. Das bewog sie zum Sprung aus dem Fenster im dritten Stock. Dies berichteten verschiedene Medien. Und dass bestätigt auch Ahmad der ebenfalls im Erlenhof einquartiert ist. Er gehört im Gegensatz zu den beiden verletzten Asylsuchenden zu den infizierten Personen und ist deshalb im ersten Stock untergebracht. Er spricht von schrecklichen Zuständen: «Nach dem Vorfall hat die Polizei den ganzen dritten Stock abgeriegelt – alle Fenster und Türen sind zu.» Für die Tat hat Ahmad Verständnis, denn auch er fürchtet sich, in den Bunker zurückzukehren. «Im Bunker hast du keine Luft. Es hat nichts. Die Situation macht uns alle krank. Wir wollen nicht zurück. Wir sind doch Menschen und haben ein Recht zu leben! Es fühlt sich an, als wären wir lebendig aber trotzdem tot.»

Von den Lebensbedingungen im Bunker oder den Ängsten der Betroffenen ist in der Medienmitteilung keine Rede. Auch nicht von dem Transparent, das die NUK-Bewohner*innen am Tag vor dem Vorfall an die Brüstung der Unterkunft an der Langstrasse gehängt hatten. Sie würden nicht genügend Essen erhalten, war darauf zu lesen, und: «Helfen sie uns». Die Sicherheitsdirektion malt stattdessen erneut ein bedrohliches Bild von den Geflüchteten und führt ausgiebig aus, dass die Asylbewerber abgewiesen worden und überdies straffällig seien. Damit lässt sie durchblicken, dass sie diese Menschen als nicht besonders schutzwürdig betrachtet oder sich diese die Situation zumindest selbst zuzuschreiben hätten. Anders lässt es sich kaum erklären, dass sämtliche Personen nach der Quarantäne wieder zurück in den Bunker sollen, den Ort der massenhaften Ansteckung mit dem Coronavirus. Sich dem zu entziehen, ist jedoch nicht wie von der Sicherheitsdirektion behauptet «inakzeptabel» – es handelt sich dabei schlichtweg um Selbstschutz. Ob die betroffenen Personen straffällig waren und ob sie ein Aufenthaltsrecht haben oder nicht, darf dabei kein Gewicht haben. Der Schutz der körperlichen Integrität und der Gesundheit sind verbriefte Menschenrechte – und gelten unbesehen von Aufenhaltsstatus und juristischer Vorgeschichte. Gerade in einer globalen Pandemie müsste dies selbstverständlich sein. Welchen Stellenwert das für die Sicherheitsbehörden hat, machte die Pressemitteilung der Sicherheitsdirektion klar: Lediglich im letzten Abschnitt wird knapp darauf hingewiesen, dass die medizinische Versorgung sichergestellt sei und die Betroffenen «professionell betreut und gepflegt» würden.

Die SP und ihr Lippenbekenntnis

Die Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich nutzt also einen Vorfall mit Schwerverletzten, um 36 Personen öffentlich und pauschal zu verleumden. Die politischen Verantwortlichen für die Massenansteckungen in Urdorf handeln mit Kalkül. Sie versuchen die unmenschlichen Zustände und die ungenügenden hygienischen Bedingungen in Urdorf und in anderen Zentren aus der öffentlichen Wahrnehmung zu drängen und ihre restriktive Asylpolitik zu rechtfertigen.

Die Ansteckungen in der NUK Urdorf hätten verhindert werden können. Somit wurden sie zumindest billigend in Kauf genommen. Sicherheitsdirektor Mario Fehr trägt die politische Verantwortung dafür. Er und seine Behörde haben die Gesundheit der NUK-Bewohner*innen fahrlässig aufs Spiel gesetzt. Als illegalisierte Menschen hatten sie praktisch keine Möglichkeit, sich zu schützen.

Klar ist: Mario Fehr muss weg, schon lange. Aber damit ist das dahinterliegende Problem nicht gelöst. Für die Unterbringung von Menschen unter solch unwürdigen Bedingungen bestehen gesetzliche Grundlagen, die unter anderem von SP-Politiker*innen erschaffen und von weiten Teilen der Sozialdemokratie getragen werden. Die SP ist somit als politische Kraft mitverantwortlich für diese Zustände und letztendlich auch für diese Massenansteckung – darüber täuscht auch ihr Lippenbekenntnis zur Schliessung des Bunkers in Urdorf nicht hinweg.

Auf unsere Nachfrage, ob sie sich weiterhin hinter Mario Fehr stelle, antwortet die SP Kanton Zürich ausweichend: «Schuldzuweisungen, Diffamierungen und Rücktrittsforderungen sind unserer Erfahrung nach eher selten die besten Mittel, um einen konkreten Fortschritt zu erreichen. Darum konzentrieren wir uns auf jene Mittel und Kanäle, die uns als Partei zur Verfügung stehen: das Parlament und das direkte Gespräch mit Mario Fehr.» Mit anderen Worten: Wer Hetzkampagnen gegen Geflüchtete verantwortet, braucht sich von der SP nicht zu fürchten.