Im Sommer 2024 wurde in Bern Midada gegründet. Wir haben zwei Arbeiter:innen getroffen, die bei der neuen anarchistischen Organisation aktiv sind, um über das Verhältnis von politischen Gruppen zu sozialen Bewegungen und Gewerkschaften zu sprechen und etwas über den Especifismo zu erfahren.
ajour: Ihr habt in Bern eine neue anarchistische Organisation gegründet. Wie kam es dazu?
Dirk: Wir haben unterschiedliche politische Biografien, viele von uns sind schon seit Längerem aktiv. Die ausserparlamentarische Linke in Bern ist traditionell anarchistisch geprägt, hat jedoch in meinen Augen eine zu grosse Distanz zu Menschen ausserhalb der subkulturellen Strukturen. Ich störte mich zudem lange Zeit daran, dass die Berner Politszene so selbstbezogen ist. Die traditionellen Antifa-Demos in unserer Stadt haben natürlich ihre Berechtigung, aber unterdessen ist das auch zu einer etwas abstrakten Angelegenheit geworden. Viele der linksradikalen Kampagnen sind weit von der eigenen Realität entfernt. Eine Ausnahme ist natürlich die erstarkende feministische und queere Bewegung der letzten Jahre. Ich bin im Laufe meines politischen Engagements zur Überzeugung gelangt, dass Kontinuität und stabile Strukturen sehr wichtig sind, um erfolgreich zu kämpfen.
Nora: Ich will Teil einer transparent arbeitenden und beständigen Organisation sein, die den Fokus auf strategische Fragen richtet, weil das auch Kontinuität ermöglicht und die Reflexionsfähigkeit verbessert. Die Wahl der Methoden soll an der Strategie ausgerichtet werden, um unnütze Ausprägungen zu erkennen und zu vermeiden. Aber genau diese Beständigkeit und das strategische Vorgehen gibt es in meinen Augen in Bern viel zu wenig. Ich war nicht zufrieden mit den anarchistischen Gefässen, die ich kannte und fand auch in anderen Spektren der radikalen Linken keine passende Struktur, um mich zu organisieren. Ich habe mich gefragt, warum das so ist, schliesslich ist die anarchistische Bewegung sehr reich an Organisierungserfahrungen – nicht nur historisch sondern auch heute. Ich habe darum viel mit Gleichgesinnten diskutiert und wir haben uns insbesondere mit dem Especifismo auseinandergesetzt. Unsere neue Organisation verorten wir denn auch in dieser Tradition.
Ist der Especifismo von Südamerika auf die Schweiz übertragbar?
Nora: Ja, sicher! Vor der Gründung unserer neuen Organisation haben wir unter dem Namen «Libertäre Aktion» mehrere Jahre lang diskutiert und uns mit verschiedenen anarchistischen Organisationsansätzen befasst. Dass wir uns entschieden haben, unsere politische Arbeit am Ansatz des Especifismo zu orientieren, liegt daran, dass wir ihn als sehr dynamisch und gewinnbringend für die Situation in der Schweiz einschätzen. Die Gründung von Midada ist keine Hauruck-Aktion, sondern wir gehen Schritt für Schritt vor. Midada bedeutet Wandel auf Rätoromanisch – wir streben vorwärts zum Aufbau von proletarischer Gegenmacht, zur sozialen Revolution aber wir lassen uns auch genug Zeit zum Reflektieren.
Dirk: Der Especifismo als Strömung des organisierten Anarchismus stammt aus den Organisationserfahrungen, die libertäre Sozialist:innen seit den 1950er-Jahren machen. Es geht dabei aber nicht darum in Bern einem abstrakten Konzept nachzueifern. Der organisierte Anarchismus wird im lateinamerikanischen Kontext und auch an anderen Orten auf der Welt kontinuierlich weiterentwickelt und wir können uns diese Erfahrungen und Konzepte für unsere Kämpfe zunutze machen. Der Especifismo hat nicht nur eine Vision einer sozialen Revolution, sondern er bietet auch strategische, analytische und methodische Werkzeuge. Eine Organisation mit diesem Profil und lebendiger Praxis gibt es momentan nicht in der Schweiz. Zudem bietet der Especifismo eine in unseren Augen sinnvolle Antwort auf die Organisationsfrage: Den organisatorischen Dualismus.
Was versteht ihr unter organisatorischem Dualismus?
Dirk: Das Konzept des organisatorischen Dualismus geht bis auf die IAA und Bakunin zurück, dazumal wurde natürlich auch schon über das Verhältnis von organisierten Kräften und den Massen diskutiert. Damals entstand die Formulierung, dass die organisierten Genoss:innen als eine aktive Minorität wie Hefe im Brotteig in den sozialen Kämpfen wirken sollen. Uns geht es darum, die in den Interessensorganisationen und sozialen Bewegungen bereits bestehenden Tendenzen zu Basisdemokratie, direkter Aktion und Selbstverwaltung zu fördern und zu festigen. Zudem wollen wir auch einen Gegenpol zur Einflussnahme von Akteuren bilden, welche die Bewegungen befrieden und ihre Radikalität abschwächen wollen. Weiter haben wir ein sozialrevolutionäres Programm und versuchen bezüglich der Ausrichtung der Kämpfe durchaus auch Impulse setzen.
Nora: Dem organisatorischen Dualismus liegt eine konkrete Frage zugrunde: Aus welcher Motivation organisierst du dich in einem bestimmten Gefäss? Engagierst du dich in einer Basisorganisation, um zusammen mit anderen Menschen für deine materiellen Interessen beispielsweise als Arbeiterin, als Frau, als queere Person, als Mieterin oder als rassifizierte Person zu kämpfen? Oder schliesst du dich einer Organisation an, deren Mitglieder sich aufgrund gleicher Ideen zusammenfinden? Daraus folgen die Bezeichnungen von Ideenorganisation, also einer Organisation wie Midada einerseits und Interessensorganisationen wie Gewerkschaften, Basisgruppen oder soziale Bewegungen andererseits.

Ihr seid also eine Ideenorganisation?
Dirk: Genau, wir finden es wichtig, uns als libertäre Sozialist:innen in einer verbindlichen Organisation mit einer spezifischen Programmatik zu treffen, Erfahrungen und Strategien zu diskutieren und unsere politische Arbeit zu reflektieren. Gleichzeitig wollen wir in Interessensorganisationen und sozialen Bewegungen zusammen mit anderen Menschen kämpfen. In der Terminologie des Especifismo nennen wir das «soziale Einfügung». In den Interessensorganisationen und den sozialen Bewegungen können wir nicht den Anspruch haben, dass alle die gleichen ideellen Ziele haben wie wir.
Nora: Wir Mitglieder von Midada sind natürlich auch von der kapitalistischen Ausbeutung, von verschiedenen Formen von Diskriminierungen und von der Klimakrise betroffen und wir wollen uns durchaus auch für unsere materiellen Interessen einsetzen. Bei Midada organisieren wir uns aber nicht vorwiegend aufgrund geteilter Erfahrungen, sondern weil wir gemeinsame politischen Ideen haben und uns auf ein politisches Programm geeinigt haben. Durch unseren Massenansatz sehen wir uns als aktive Minorität in Basisorganisationen.
Die especifistischen Organisationen, die unter anderem in Uruguay und Brasilien aktiv sind, intervenieren in grosse Massenorganisationen. Warum wollt ihr diesen Ansatz auf die Schweiz anwenden, wo doch ganz eine andere Situation vorherrscht?
Nora: In der Schweiz ist die Kampfbereitschaft der Menschen momentan tatsächlich geringer, soziale Kämpfe und widerständige Strukturen haben weniger Durchsetzungsmacht als beispielsweise in Brasilien. Aber erstens kann sich das ändern. Und zweitens ist der duale Ansatz nicht abhängig davon, wie gross die Bewegungen sind. Wir können uns auch in eher kleine Interessensorganisationen und soziale Bewegungen einbringen. Dabei ist es uns wichtig, die Bewegung und die Leute darin aufzubauen, Etappensiege zu erringen, stärkende Momente zu ermöglichen und in die Breite zu arbeiten.
Dirk: Die Kampffelder – die Especifistas nennen das die «Fronten» – können sehr unterschiedlich sein. Beispielsweise verschiedene soziale Bewegungen aber eben auch Stadtteilarbeit, Gewerkschaften, Mieter*innenorganisationen oder im lateinamerikanischen Kontext die Landlosenbewegung. Wir wollen in der Schweiz sowohl in sozialen Bewegungen als auch im gewerkschaftlichen Bereich aktiv sein. Die Basisarbeit in der Gewerkschaft richtet sich nach der Betroffenheit, die Impulse kommen von den Gewerkschaftsmitgliedern aus ihrem Arbeitsalltag heraus. Unsere Arbeit beinhaltet Organizing, das Teilen von Wissen, die Vernetzung mit anderen Arbeitskämpfen. Soziale Bewegungen funktionieren anders, weil breite Teile der Bevölkerung Teil davon und oftmals längerfristig darin aktiv sind. Soziale Bewegungen schaffen auch eigene Strukturen, eine eigene politische Kultur und tiefgreifende soziale Beziehungen zwischen den Menschen, die gemeinsam kämpfen. Soziale Bewegungen gehören genauso wie Zusammenschlüsse von Arbeiter:innen zu denjenigen sozialen Kräften, die sozialrevolutionäres Potential haben, weil sie ganz konkret Gegenmacht aufbauen. In gewissen Dynamiken des Klassenkampfes kann eine politische Organisation auch zu träge sein, während breite Basisbewegungen schnelle und kämpferische Eigendynamiken entwickeln können.
Wie ist euer Verhältnis zu den Basisorganisationen, in denen ihr aktiv seid?
Nora: Seit unserer Gründung nehmen wir unsere sozialen Einfügungen in der Berner Klimabewegung, namentlich beim Klimastreik Bern, sowie in der Freien Arbeiter*innen-Union (FAU) vor. Wir versuchen bezüglich unseres politischen Backgrounds möglichst transparent zu sein. Wir gehen offen und auf Augenhöhe auf alle Menschen in den Bewegungen und Basisorganisationen ein. Wir überlegen uns natürlich, wie wir ankommen und wie wir uns in Räume einbringen, schliesslich sind beständige soziale Beziehungen der Schlüssel für erfolgreiche Zusammenarbeit in Basisorganisationen. Der Beziehungsaufbau darf aber auf keinen Fall instrumentellen Charakter annehmen. Wir wollen uns also so authentisch wie möglich verhalten. Es besteht die Problematik, dass wir unter Midada-Mitgliedern eine nähere Beziehung zueinander haben als zu anderen Leuten in der Bewegung. Auf diese Weise entsteht das Risiko, dass sich andere Menschen ausgeschlossen oder nicht zugehörig fühlen. Über solche und ähnliche Probleme reflektieren wir oft. Insbesondere müssen wir uns auch dem Thema Machtgefälle und potentiellen romantischen oder sexuellen Beziehungen stellen.
Dirk: Wir sind nicht als Abgesandte von Midada in den Bewegungen, sondern als kämpfende Subjekte. Grundsätzlich hat für uns die kontinuierliche Arbeit und die Verlässlichkeit in den Basisorganisationen Vorrang. Im Zweifelsfall müssen wir die Arbeit bei Midada auch mal hintanstellen. Wir finden es auch wichtiger, dass Leute in den Basisorganisationen kontinuierlich arbeiten, als dass sie sich unserer Organisation anschliessen. Wenn wir verlässlich und transparent arbeiten, können wir gute und ehrliche Beziehungen aufbauen und auf diese Weise auch unsere Positionen greifbar und zugänglich machen. Die sozialen Kräfte sind diejenigen, die Gegenmacht aufbauen und perspektivisch die soziale Revolution durchführen können. Darum ist uns die Verankerung in diesen Bewegungen zentral. Und in unseren Augen geht das eben am besten, wenn wir uns nicht an einem einheitlichen sondern an einem dualistischen Organisationsansatz orientieren.

Ihr seid in der FAU aktiv, eine kämpferische aber auch eher kleine Basisgewerkschaft in der Tradition des revolutionären Syndikalismus. Wäre es nicht sinnvoll, in den traditionellen Gewerkschaften aktiv zu sein, wo sich viel mehr Arbeiter:innen organisieren?
Nora: Einige unserer Mitglieder waren auch in staatstragenden Gewerkschaften aktiv, teilweise sogar als Vertrauensleute. In der UNIA im Speziellen ist sehr wenig zu holen für uns. Die Partizipationsmöglichkeiten sind wirklich sehr klein, man kann sich kaum einbringen, solange man keine Funktionärsposition hat. Es gibt sogar Geschichten von Leuten, die rausgemobbt wurden, weil sie nicht gespurt haben. Unser Ziel ist es, eine kämpferische Arbeiter:innenbewegung wieder aufzubauen, hierfür sehen wir eine syndikalistische Strategie als erfolgsversprechend. Die Wahl der FAU als Ort unserer sozialen Einfügung basiert also nicht auf einem ideologischen Reinheitsanspruch, sondern auf unserer Erfahrung aus der Praxis.
Dirk: Natürlich interessieren wir uns für die Arbeiter:innen, die in den staatstragenden Gewerkschaften organisiert sind. Und wir schliessen es auch nicht aus, eines Tages doch wieder in diesen Gewerkschaften aktiv zu werden. In der jetzigen Situation und aus den Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren in Bern gemacht haben, sehen wir darin jedoch wenig Sinn. Union Busting wird nicht nur von Staat und Kapital praktiziert, sondern auch von den Gewerkschaften selbst. Unsere Mitglieder waren vor nicht allzu langer Zeit an einem Arbeitskampf beteiligt, bei dem sich der vpod total demobilisierend verhalten hat und das Wording der Chefs übernahm. Unser Verhältnis zu den grossen Gewerkschaften ist momentan eher taktisch, beispielsweise hatten wir durch das Engagement der Berner Klimabewegung bezüglich der drohenden Schliessung von Stahlwerken mit der UNIA und der Syna zu tun.
Nora: Klassenbewusstsein entsteht in der Reibung, in Kämpfen. Die grossen Zentralgewerkschaften in der Schweiz machen jedoch das Gegenteil, sie machen ihre Mitglieder träge und teilnahmslos. Mitglied in der UNIA, im vpod oder bei Syndicom zu sein, bedeutet einfach Geld zu bezahlen und ein paar Rabatte bei irgendwelchen Werbeaktionen zu erhalten. Man wird kaum je selbst aktiv, weil diese Gewerkschaften das gar nicht wollen. Man hat keine Handlungsmacht – es wird für die Arbeiter:innen verhandelt. Wer sein Geld bei der Gewerkschaft verdient, hat ganz andere Interessen, man will seine Rolle und seinen Einfluss in der Gewerkschaftshierarchie festigen. Die grossen Gewerkschaften in der Schweiz sind bürokratische Apparate, die systemerhaltend und befriedend wirken. Sie tun nichts weiter, als unter dem Dogma der Sozialpartnerschaft an Gesamtarbeitsverträgen herumzufeilen. Perspektivisch bringen die grossen Schweizer Gewerkschaften darum nicht nur wenig Nutzen sondern sie sind sogar Hindernisse für den Aufbau proletarischer Gegenmacht.
Zurück zu eurem Gründungsprozess. Eure Organisation ist noch jung. Was sind eure nächsten Schritte?
Nora: Während der Phase kurz nach der Publikation unserer Gründungserklärung haben wir unser Grundsatzpapier in verschiedenen Posts auf Social Media veröffentlicht. Seither haben wir uns wieder der Arbeit in der FAU und in der Klimabewegung gewidmet. Zudem arbeiten wir weiter an unseren Strukturen und Abläufen sowie an der Organisationskultur. Uns ist die transparente Mandatsvergabe ein grosses Anliegen, weil auf diese Weise verdeckte Hierarchien verringert werden können.
Dirk: Wir machen intern viel Bildungsarbeit mit dem Ziel, uns politisch zu festigen und Wissenshierarchien abzubauen. Wir pflegen und vertiefen zudem unsere internationale Vernetzung mit anderen Organisationen aus unserer Strömung. Gemeinsam mit den Genoss:innen rund um den Erdball machen wir auch Solidaritätsaktionen, beispielsweise für Anarchist:innen im Sudan oder in Brasilien.
Wen wollt ihr mit eurer Organisation ansprechen? Wer soll sich Midada anschliessen?
Dirk: Wer zusätzlich zu seinem Engagement in einer Basisorganisation das Bedürfnis und die Kapazitäten hat, auch noch in einer spezifischen libertär-sozialistischen Orga aktiv zu sein, ist herzlich willkommen, sich bei uns zu melden. Es macht aber keinen Sinn, bei Midada Mitglied zu werden, wenn man keine Zeit oder Geduld für die Arbeit in Basisorganisationen und die damit zusammenhängende soziale Auseinandersetzung mit den beteiligten Menschen hat.
Nora: Wer einfach «nur» Mitglied in einer Organisation sein will, ist bei uns an der falschen Adresse. Im Gegenteil ist es vielmehr unser Ziel, über kurz oder lang Gefässe zu schaffen, wie sich Menschen aus der Basisarbeit nah an unserer Organisation zu bewegen, ohne überhaupt Mitglied sein zu müssen. In der especifistischen Terminologie heissen solche Gefässe «Tendenzorganisationen». Wie gesagt, es geht uns nicht darum, dass Midada als Ideenorganisation möglichst schnell wächst, sondern wir wollen die Klimabewegung und die Gewerkschaft FAU stärken. Und mittelfristig werden unsere Mitglieder hoffentlich noch in anderen Bereichen soziale Einfügungen vornehmen können, wir streben beispielsweise vermehrte Aktivitäten in der feministischen Bewegung an. Auch dort wird es vor allem darum gehen, die Bewegung zu stärken.
In welchen Verhältnis steht ihr zu anderen radikalen Linken Kräften?
Nora: Das ist sehr situativ. Momentan macht Midada keine aktive Bündnisarbeit mit anderen Organisationen. Unsere politische Praxis passiert in den Bewegungen, wir machen keine eigenen Mobilisierungen oder Aktionen. Wir schliessen das nicht kategorisch aus, aber im Moment gehört das nicht zu unserer Praxis. Wenn wir eines Tages grösser sind, nimmt die Vernetzung als Organisation mit anderen Kräften dann aber vielleicht auch mehr Raum ein. Wer bis dahin mit Midada zusammenarbeiten will, findet uns in der Berner Klimabewegung oder in der FAU Bern.
Midada: www.midada.org
